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Die Grenzboten. Jg. 22, 1863, II. Semester. III. Band.

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des Gedichts bei dem Lordkanzler klagte, ward er abgewiesen, weil "Christlich¬
keit das Fundament aller englischen Gesetze und das vorliegende Werk nicht
von der Art ist, daß dem beeinträchtigten Buchhändler irgend ein Schadenersatz
zugesprochen werden konnte". Eines ähnlichen Looses rühmte sich des Dichters
Freund Shelley, dem man als einem offenbaren Atheisten von Gerichtswegen
das Recht seine eignen Kinder zu erziehen raubte. Grundes genug für Byron,
um zu wähnen, daß nur die "Heuchelei" seiner Landsleute ihn lästere.

Wohl trieb eben in jenen Jahren der Erstarrung die unverwüstliche Lebens¬
kraft des englischen Volks in der Stille die gesunden Keime einer neuen staat¬
lichen Entwickelung hervor. stetig vollzog sich die Neubildung der parlamen.
darischen Parteien, welcher das Land später die Parlamentsreform, die Emanci¬
pation der Katholiken, die Entfesselung des Handels verdanken sollte. Doch
Byrons unsteten Sinn reizte es nicht, theilzunehmen an der unscheinbaren lang¬
samen Mannesarbeit der Reform. Wie viel verlockender, wie viel jugendlicher,
umherzuschweifen, gleich andern meisterlosen Wildlingen seines Volks, gleich
Lord Cochrane und Lady Morgan, als ein Apostel der Freiheit unter den
heißblutigen Völkern des Südens! So findet Lord Byron in der politischen
Geschichte seines Vaterlandes gar keine Stelle, in der englischen Literatur¬
geschichte taucht er nur auf als ein jählings verschwindendes Meteor, für die
politische und literarische Entwicklung des Festlands aber ist er von durchgrei¬
fender bleibender Bedeutung geworden. Die englischen Standesgenossen hassen
in ihm nicht blos den Freigeist und den Radicalen. sondern vornehmlich den
treulosen Engländer, der zu continentalen Sitten und Gedanken abfiel. Haben
sich doch erst seitdem die englischen Sitten den festländischen erstaunlich ange¬
nähert. Das altmodische Zerrbild des reisenden Engländers, das heute im
Leben schier ausgestorben ist und nur noch in den Caricaturen der Franzosen
als ein Anachronismus spukt -- damals war es noch eine Wahrheit, da die
Mitglieder der englischen Gesandtschaft auf dem wiener Congresse durch geschmack¬
lose Tracht und eckige Sitte das Gelächter der glatten Continentalen erregten.
Um so mehr mußte sich in Italien Byrons boshafter Blick für die Eigenschaf¬
ten seiner Landsleute schärfen, um so zorniger diese auf den heimathloser Bri¬
ten blicken. Welch ein Eindruck aber unter den Völkern des Südens, als der
gefeierte Lord mit ihnen ihr leichtes Sinnenleben lebte, in glühenden Versen
ihre süßen Sünden besang und die Pracht ihres Landes und die Heldenkraft
der Söhne ihrer Berge. Er lernte die Dichter Italiens lieben, die von dem
riZOi'gimMto ihres Landes geträumt, er lebte sich ein in den abstracten Radi-
calismus der Geknechteten, er klagte mit dem Venetianer: "der Name Republik
ist hingeschwunden." Er wies den Kleinmüthigen jenen Helden, der wirklich
als "der Erste, der Größte, der Beste" der neueren Menschen in der Seele
der modernen Jugend lebt und leben wird -- Washington: -- und der gehet-


des Gedichts bei dem Lordkanzler klagte, ward er abgewiesen, weil „Christlich¬
keit das Fundament aller englischen Gesetze und das vorliegende Werk nicht
von der Art ist, daß dem beeinträchtigten Buchhändler irgend ein Schadenersatz
zugesprochen werden konnte". Eines ähnlichen Looses rühmte sich des Dichters
Freund Shelley, dem man als einem offenbaren Atheisten von Gerichtswegen
das Recht seine eignen Kinder zu erziehen raubte. Grundes genug für Byron,
um zu wähnen, daß nur die „Heuchelei" seiner Landsleute ihn lästere.

Wohl trieb eben in jenen Jahren der Erstarrung die unverwüstliche Lebens¬
kraft des englischen Volks in der Stille die gesunden Keime einer neuen staat¬
lichen Entwickelung hervor. stetig vollzog sich die Neubildung der parlamen.
darischen Parteien, welcher das Land später die Parlamentsreform, die Emanci¬
pation der Katholiken, die Entfesselung des Handels verdanken sollte. Doch
Byrons unsteten Sinn reizte es nicht, theilzunehmen an der unscheinbaren lang¬
samen Mannesarbeit der Reform. Wie viel verlockender, wie viel jugendlicher,
umherzuschweifen, gleich andern meisterlosen Wildlingen seines Volks, gleich
Lord Cochrane und Lady Morgan, als ein Apostel der Freiheit unter den
heißblutigen Völkern des Südens! So findet Lord Byron in der politischen
Geschichte seines Vaterlandes gar keine Stelle, in der englischen Literatur¬
geschichte taucht er nur auf als ein jählings verschwindendes Meteor, für die
politische und literarische Entwicklung des Festlands aber ist er von durchgrei¬
fender bleibender Bedeutung geworden. Die englischen Standesgenossen hassen
in ihm nicht blos den Freigeist und den Radicalen. sondern vornehmlich den
treulosen Engländer, der zu continentalen Sitten und Gedanken abfiel. Haben
sich doch erst seitdem die englischen Sitten den festländischen erstaunlich ange¬
nähert. Das altmodische Zerrbild des reisenden Engländers, das heute im
Leben schier ausgestorben ist und nur noch in den Caricaturen der Franzosen
als ein Anachronismus spukt — damals war es noch eine Wahrheit, da die
Mitglieder der englischen Gesandtschaft auf dem wiener Congresse durch geschmack¬
lose Tracht und eckige Sitte das Gelächter der glatten Continentalen erregten.
Um so mehr mußte sich in Italien Byrons boshafter Blick für die Eigenschaf¬
ten seiner Landsleute schärfen, um so zorniger diese auf den heimathloser Bri¬
ten blicken. Welch ein Eindruck aber unter den Völkern des Südens, als der
gefeierte Lord mit ihnen ihr leichtes Sinnenleben lebte, in glühenden Versen
ihre süßen Sünden besang und die Pracht ihres Landes und die Heldenkraft
der Söhne ihrer Berge. Er lernte die Dichter Italiens lieben, die von dem
riZOi'gimMto ihres Landes geträumt, er lebte sich ein in den abstracten Radi-
calismus der Geknechteten, er klagte mit dem Venetianer: „der Name Republik
ist hingeschwunden." Er wies den Kleinmüthigen jenen Helden, der wirklich
als „der Erste, der Größte, der Beste" der neueren Menschen in der Seele
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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 22, 1863, II. Semester. III. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341797_115393/23>, abgerufen am 22.12.2024.