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Die Grenzboten. Jg. 22, 1863, II. Semester. III. Band.

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Gesammtleben entwickelt. Die einzelnen Stämme, seit langen Jahrhunderten
Von einander getrennt und je von anderen fremden beherrscht, haben es nicht
einmal zu einer gemeinsamen Schriftsprache bringen können. Dazu kommt,
daß Dank der politischen und geistigen Zucht, welche ihnen widerfahren ist,
sich auch in den einzelnen Sprach- und Stammkrcisen kein eigentliches litera¬
risches Publicum gebildet hat, wenigstens nirgend in dem Sinne wie bei den
übrigen Culturvölkern Europas. Denn auch wo es existirt, fehlt ihm ein
Hauptstück der Gleichartigkeit mit jenen: es fehlt der Zusammenhang der
Geistesentwicklung der verschiedenen Zeiten, oder doch das Bewußtsein derselben.
Dies unterscheidet die Slaven von den meisten anderen Völkern, welche lange in
nationaler Unfreiheit gestanden haben. Wir erinnern vergleichsweise nur an
die Italiener. Mit diesen quantitativen Mängeln der Literaturthätigkeit aber
stehen auch die qualitativen in Zusammenhang; sind doch schon jene von dop¬
pelter Natur, da ihre Ursachen eben den Kern des Volksgeistes berühren, und
zwar eines Volksgeistes, der entschieden mehr receptiv als prvductiv angelegt ist.

Alle diese Eigenthümlichkeiten treten am umfassendsten und am deutlichsten
an der böhmischen Literatur unserer Zeit hervor. Sie hat in der That einen
höchst wundersamen Entwicklungsgang gehabt, den wir kurz andeuten müssen,
um nicht ungebührlich oder voreilig über die Resultate zu urtheilen, die uns
vorliegen. Erinnern wir uns zunächst, daß seit der Zeit, da Böhmen nach
seiner zweiten großen Revolution gewaltsam in Oestreich hineinbegraben wurde,
die Geschichte einer .böhmischen Literatur leere Blätter sind.. Nicht blos die
Nationalliteratur hörte gänzlich auf, sondern überhaupt jede allgemeine Beschäf¬
tigung mit den Wissenschaften. Das wenige echt böhmische Blut, welches nach
den beispiellosen Verwüstungen, die des anderen Ferdinands "fromme Wuth"
anrichtete, im Vaterlande zurückblieb, ward sehr bald von der allgemeinen Fäul-
niß angesteckt, sodaß schon Paul Stransky ein Jahrzehend nach der Schlacht
am weißen Berge den schrecklichen Verfall selbst der Muttersprache beschreibt.
Der prager Index, welcher alle in dem Zeitraum von 1414--1633 entstan¬
denen böhmischen Bücher a xriori der Ketzerei bezüchtigte und unbesehen der
Vernichtung preisgab, hat mit aller Literatur in Böhmen in gleichem christ¬
lichen Sinne und in ebensolcher herodianischcr Gründlichkeit aufgeräumt, wie
seiner Zeit etwa mit dem heidnischen Gräuel Mexicos. Von einer Unzahl böh¬
mischer Schriften aus einer großen Zeit der Nation besitzen wir nur die Todtcn-
scheine nebst unfruchtbaren Klagen über ihren Untergang; jene aus dem Zeug¬
nisse Solcher, die sich ihres Antheils an dem Morde rühmen; diese aus
dem noch unverdächtigeren Munde Anderer, welche zwar mit dem Principe
dieser Schandthat "einverstanden sind, doch einige ehrenwerthe Bedenken über
die Art und Weise seiner Ausübung empfinden. Zu diesen letzteren gehört
der sehr achtbare Jesuit Balbin, dessen gelehrtes Interesse die späteren bös-


20*

Gesammtleben entwickelt. Die einzelnen Stämme, seit langen Jahrhunderten
Von einander getrennt und je von anderen fremden beherrscht, haben es nicht
einmal zu einer gemeinsamen Schriftsprache bringen können. Dazu kommt,
daß Dank der politischen und geistigen Zucht, welche ihnen widerfahren ist,
sich auch in den einzelnen Sprach- und Stammkrcisen kein eigentliches litera¬
risches Publicum gebildet hat, wenigstens nirgend in dem Sinne wie bei den
übrigen Culturvölkern Europas. Denn auch wo es existirt, fehlt ihm ein
Hauptstück der Gleichartigkeit mit jenen: es fehlt der Zusammenhang der
Geistesentwicklung der verschiedenen Zeiten, oder doch das Bewußtsein derselben.
Dies unterscheidet die Slaven von den meisten anderen Völkern, welche lange in
nationaler Unfreiheit gestanden haben. Wir erinnern vergleichsweise nur an
die Italiener. Mit diesen quantitativen Mängeln der Literaturthätigkeit aber
stehen auch die qualitativen in Zusammenhang; sind doch schon jene von dop¬
pelter Natur, da ihre Ursachen eben den Kern des Volksgeistes berühren, und
zwar eines Volksgeistes, der entschieden mehr receptiv als prvductiv angelegt ist.

Alle diese Eigenthümlichkeiten treten am umfassendsten und am deutlichsten
an der böhmischen Literatur unserer Zeit hervor. Sie hat in der That einen
höchst wundersamen Entwicklungsgang gehabt, den wir kurz andeuten müssen,
um nicht ungebührlich oder voreilig über die Resultate zu urtheilen, die uns
vorliegen. Erinnern wir uns zunächst, daß seit der Zeit, da Böhmen nach
seiner zweiten großen Revolution gewaltsam in Oestreich hineinbegraben wurde,
die Geschichte einer .böhmischen Literatur leere Blätter sind.. Nicht blos die
Nationalliteratur hörte gänzlich auf, sondern überhaupt jede allgemeine Beschäf¬
tigung mit den Wissenschaften. Das wenige echt böhmische Blut, welches nach
den beispiellosen Verwüstungen, die des anderen Ferdinands „fromme Wuth"
anrichtete, im Vaterlande zurückblieb, ward sehr bald von der allgemeinen Fäul-
niß angesteckt, sodaß schon Paul Stransky ein Jahrzehend nach der Schlacht
am weißen Berge den schrecklichen Verfall selbst der Muttersprache beschreibt.
Der prager Index, welcher alle in dem Zeitraum von 1414—1633 entstan¬
denen böhmischen Bücher a xriori der Ketzerei bezüchtigte und unbesehen der
Vernichtung preisgab, hat mit aller Literatur in Böhmen in gleichem christ¬
lichen Sinne und in ebensolcher herodianischcr Gründlichkeit aufgeräumt, wie
seiner Zeit etwa mit dem heidnischen Gräuel Mexicos. Von einer Unzahl böh¬
mischer Schriften aus einer großen Zeit der Nation besitzen wir nur die Todtcn-
scheine nebst unfruchtbaren Klagen über ihren Untergang; jene aus dem Zeug¬
nisse Solcher, die sich ihres Antheils an dem Morde rühmen; diese aus
dem noch unverdächtigeren Munde Anderer, welche zwar mit dem Principe
dieser Schandthat "einverstanden sind, doch einige ehrenwerthe Bedenken über
die Art und Weise seiner Ausübung empfinden. Zu diesen letzteren gehört
der sehr achtbare Jesuit Balbin, dessen gelehrtes Interesse die späteren bös-


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[0163] Gesammtleben entwickelt. Die einzelnen Stämme, seit langen Jahrhunderten Von einander getrennt und je von anderen fremden beherrscht, haben es nicht einmal zu einer gemeinsamen Schriftsprache bringen können. Dazu kommt, daß Dank der politischen und geistigen Zucht, welche ihnen widerfahren ist, sich auch in den einzelnen Sprach- und Stammkrcisen kein eigentliches litera¬ risches Publicum gebildet hat, wenigstens nirgend in dem Sinne wie bei den übrigen Culturvölkern Europas. Denn auch wo es existirt, fehlt ihm ein Hauptstück der Gleichartigkeit mit jenen: es fehlt der Zusammenhang der Geistesentwicklung der verschiedenen Zeiten, oder doch das Bewußtsein derselben. Dies unterscheidet die Slaven von den meisten anderen Völkern, welche lange in nationaler Unfreiheit gestanden haben. Wir erinnern vergleichsweise nur an die Italiener. Mit diesen quantitativen Mängeln der Literaturthätigkeit aber stehen auch die qualitativen in Zusammenhang; sind doch schon jene von dop¬ pelter Natur, da ihre Ursachen eben den Kern des Volksgeistes berühren, und zwar eines Volksgeistes, der entschieden mehr receptiv als prvductiv angelegt ist. Alle diese Eigenthümlichkeiten treten am umfassendsten und am deutlichsten an der böhmischen Literatur unserer Zeit hervor. Sie hat in der That einen höchst wundersamen Entwicklungsgang gehabt, den wir kurz andeuten müssen, um nicht ungebührlich oder voreilig über die Resultate zu urtheilen, die uns vorliegen. Erinnern wir uns zunächst, daß seit der Zeit, da Böhmen nach seiner zweiten großen Revolution gewaltsam in Oestreich hineinbegraben wurde, die Geschichte einer .böhmischen Literatur leere Blätter sind.. Nicht blos die Nationalliteratur hörte gänzlich auf, sondern überhaupt jede allgemeine Beschäf¬ tigung mit den Wissenschaften. Das wenige echt böhmische Blut, welches nach den beispiellosen Verwüstungen, die des anderen Ferdinands „fromme Wuth" anrichtete, im Vaterlande zurückblieb, ward sehr bald von der allgemeinen Fäul- niß angesteckt, sodaß schon Paul Stransky ein Jahrzehend nach der Schlacht am weißen Berge den schrecklichen Verfall selbst der Muttersprache beschreibt. Der prager Index, welcher alle in dem Zeitraum von 1414—1633 entstan¬ denen böhmischen Bücher a xriori der Ketzerei bezüchtigte und unbesehen der Vernichtung preisgab, hat mit aller Literatur in Böhmen in gleichem christ¬ lichen Sinne und in ebensolcher herodianischcr Gründlichkeit aufgeräumt, wie seiner Zeit etwa mit dem heidnischen Gräuel Mexicos. Von einer Unzahl böh¬ mischer Schriften aus einer großen Zeit der Nation besitzen wir nur die Todtcn- scheine nebst unfruchtbaren Klagen über ihren Untergang; jene aus dem Zeug¬ nisse Solcher, die sich ihres Antheils an dem Morde rühmen; diese aus dem noch unverdächtigeren Munde Anderer, welche zwar mit dem Principe dieser Schandthat "einverstanden sind, doch einige ehrenwerthe Bedenken über die Art und Weise seiner Ausübung empfinden. Zu diesen letzteren gehört der sehr achtbare Jesuit Balbin, dessen gelehrtes Interesse die späteren bös- 20*

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 22, 1863, II. Semester. III. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341797_115393/163>, abgerufen am 28.07.2024.