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Die Grenzboten. Jg. 22, 1863, II. Semester. III. Band.

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materieller, durch gleichsam vegetatives Wachsthum gewordener Bestand weniger
angegriffen ist von dem freien geistigen Entwicklungsproccsse. Dieser geht
darauf aus, die Sprache zur leichteren Brauchbarkeit für die Zwecke des Geistes
zuzubereiten. Zu dem Ende bereichert er das Lexikalische und besonders das
Syntaktische auf Kosten des Grammatikalischen im engern Sinne, welches jene
Elemente ursprünglich überwiegt. Daher kommt es, daß jede relativ altere,
d. h. ausgelebtere Sprache, weil sie stets die materiell ärmere ist, von einer
jüngeren, d. h. ihres ursprünglichen Lebens bewußteren Muttersprache aus
leichter zu erlernen ist, als umgekehrt. In dieser Lage aber befinden sich die
Slaven gegen uns Deutsche, wie wir Deutschen unsrerseits z. B. gegen die
Romanen. Der Erfolg war bekanntermaßen, daß im Laufe der Jahrhunderte
unser Idiom an der West- und Südgrenze fast ebenso zurückgewichen ist, wie
es nach Ost und Südost an Terrain gewonnen hat; freilich mit dem sehr be¬
deutsamen Unterschiede, daß unsere Spracheroberungen zugleich in weit höherem
Grade und in viel eingreifenderer Weise auch Cultursicge sind, als dies bei der
Ausdehnung der romanischen Idiome über unsere Landesgrcnzen her der Fall ist.

Aber neben dem praktischen, directen Umgänge der Völker, bei wel¬
chem diese Gesetze herrschen, gibt es noch einen anderen, erhöhten und rei¬
neren, den Literaturverkehr, durch welchen noch klarer und eigentlicher -- etwa
so wie unter den einzelnen - Menschen im brieflichen Austausche -- sich kund
gibt, was der Eine dem Andern gilt. In ihm bekommt auch die Weltstellung
der Sprachen noch einen andern Sinn. Seit die französische Sprache um ihre
Herrschaft in der europäischen Welt gekommen ist, hat weder der Italiener,
noch der Franzose, noch sogar der Brite bei aller nationalen Ausschließlichkeit
und trotz der außerordentliche" Schwierigkeiten, welche ihnen dabei bereitet sind,
sich der Erlernung der deutschen Sprache enthalten können. Denn die Bekannt¬
schaft mit der deutschen Literatur gehört bei den europäischen Völkern zu den
Erfordernissen tüchtiger Bildung, und es ist eine überhandnehmende Einsicht,
daß die Sprache ein integrirender Bestandtheil des Geistes der Literaturen ist.

Läßt sich nun von Seiten der slavischen Literatur aus ähnlichen Grün¬
den die Forderung solchen Interesses an uns stellen, die wir durch die
räumliche Nähe sowohl als durch die sprachliche Verwandtschaft dazu beru¬
fen wären, die Erzeugnisse des slavischen Geistes der Weltliteratur zu ver¬
mitteln? Wir fänden uns dabei keiner allzu umfangreichen Aufgabe gegen¬
über. Quantitativ steht die Production der slavischen Literaturen zu der
unsrigen noch nicht einmal in dem umgekehrten Zahlenverhältnisse der Volks¬
massen, ja nicht einmal des Länderraumes, den sie einnehmen. Denn was die
myrioglotte Monarchie Nußland und das Polyglotte Kaiserthum Oestreich an
literarischen Erzeugnissen in slavischem Idiom leisten, ist überaus gering. Das
geht sehr natürlich zu. Es hat sich weder politisch noch literarisch ein slavisches


materieller, durch gleichsam vegetatives Wachsthum gewordener Bestand weniger
angegriffen ist von dem freien geistigen Entwicklungsproccsse. Dieser geht
darauf aus, die Sprache zur leichteren Brauchbarkeit für die Zwecke des Geistes
zuzubereiten. Zu dem Ende bereichert er das Lexikalische und besonders das
Syntaktische auf Kosten des Grammatikalischen im engern Sinne, welches jene
Elemente ursprünglich überwiegt. Daher kommt es, daß jede relativ altere,
d. h. ausgelebtere Sprache, weil sie stets die materiell ärmere ist, von einer
jüngeren, d. h. ihres ursprünglichen Lebens bewußteren Muttersprache aus
leichter zu erlernen ist, als umgekehrt. In dieser Lage aber befinden sich die
Slaven gegen uns Deutsche, wie wir Deutschen unsrerseits z. B. gegen die
Romanen. Der Erfolg war bekanntermaßen, daß im Laufe der Jahrhunderte
unser Idiom an der West- und Südgrenze fast ebenso zurückgewichen ist, wie
es nach Ost und Südost an Terrain gewonnen hat; freilich mit dem sehr be¬
deutsamen Unterschiede, daß unsere Spracheroberungen zugleich in weit höherem
Grade und in viel eingreifenderer Weise auch Cultursicge sind, als dies bei der
Ausdehnung der romanischen Idiome über unsere Landesgrcnzen her der Fall ist.

Aber neben dem praktischen, directen Umgänge der Völker, bei wel¬
chem diese Gesetze herrschen, gibt es noch einen anderen, erhöhten und rei¬
neren, den Literaturverkehr, durch welchen noch klarer und eigentlicher — etwa
so wie unter den einzelnen - Menschen im brieflichen Austausche — sich kund
gibt, was der Eine dem Andern gilt. In ihm bekommt auch die Weltstellung
der Sprachen noch einen andern Sinn. Seit die französische Sprache um ihre
Herrschaft in der europäischen Welt gekommen ist, hat weder der Italiener,
noch der Franzose, noch sogar der Brite bei aller nationalen Ausschließlichkeit
und trotz der außerordentliche» Schwierigkeiten, welche ihnen dabei bereitet sind,
sich der Erlernung der deutschen Sprache enthalten können. Denn die Bekannt¬
schaft mit der deutschen Literatur gehört bei den europäischen Völkern zu den
Erfordernissen tüchtiger Bildung, und es ist eine überhandnehmende Einsicht,
daß die Sprache ein integrirender Bestandtheil des Geistes der Literaturen ist.

Läßt sich nun von Seiten der slavischen Literatur aus ähnlichen Grün¬
den die Forderung solchen Interesses an uns stellen, die wir durch die
räumliche Nähe sowohl als durch die sprachliche Verwandtschaft dazu beru¬
fen wären, die Erzeugnisse des slavischen Geistes der Weltliteratur zu ver¬
mitteln? Wir fänden uns dabei keiner allzu umfangreichen Aufgabe gegen¬
über. Quantitativ steht die Production der slavischen Literaturen zu der
unsrigen noch nicht einmal in dem umgekehrten Zahlenverhältnisse der Volks¬
massen, ja nicht einmal des Länderraumes, den sie einnehmen. Denn was die
myrioglotte Monarchie Nußland und das Polyglotte Kaiserthum Oestreich an
literarischen Erzeugnissen in slavischem Idiom leisten, ist überaus gering. Das
geht sehr natürlich zu. Es hat sich weder politisch noch literarisch ein slavisches


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 22, 1863, II. Semester. III. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341797_115393/162>, abgerufen am 28.07.2024.