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Die Grenzboten. Jg. 21, 1862, II. Semester. III. Band.

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Glieder benetzen. Es ist mit dem Wunderglauben wie mit jenem Heiligen,
der nachdem er enthauptet worden war, mit dem Kopf unter dem Arme davon
ging. (?e n'est c^ne 1s Premier pas, "zur coule.




Vermischte Literatur.
Geschichte des achtzehnten Jahrhunderts von F. A. Gfrörer. Nach dem
Tode des Verfassers herausgegeben von I. B. Weiß, Professor der Geschichte an
der Universität Gratz. 1. bis Z. Band. Schaffhausen. Verlag der Fr. Hurtcrschen
Buchhandlung. 1862.

Vorlesungen. welche Gfrörer bis kurz vor seinem Ableben an der Universität
Frei bürg gehalten hat -- mit welcher Tendenz, ist nickt nöthig ausführlich darzu¬
legen, da Verfasser und Verlag hinreichend bekannt sind. Es ist ein vom Prote¬
stantismus ins römische Lager übergcgangner Gelehrter, der hier zu uns spricht,
es ist ein Geschichtschreiber, der in den herrschsüchiigeu Bestrebungen Oestreichs, in
der spanischen Jntriguenpolitik des Hauses Habsburg nur das patriotische Bestreben
sieht, die Ehre Deutschlands zu retten und die Einheit des Reichs wiederherzustellen.
Neue Quellen sind nirgends benutzt, überhaupt geht der Verfasser nur selten in die
Tiefe. Im Uebrigen ist anzuerkennen, daß die Vorzüge, die Gfrörcrs Schriften im
Allgemeinen hüben, frische, kräftige Darstellung, künstlerische Gruppirung der Be¬
gebenheiten und große Uebcrsichilichkeit bei vollem Eingehen in die Einzelnheiten, leben¬
dige Auffassung des innern Zusammenhangs der Dinge und scharfe Cbaraktcrisiiung
der Situationen "ut Personen, so weit sein Auge nicht durch die eingeführte Ten¬
denz eine schiefe Richtung erhält, auch hier nicht mangeln. Am freiesten und un-
befangensten ist der erste Band gehalten, der neben feurigen Lobpreisungen Kaiser
Josephs des Ersten und andrer bedeutender Oestreichs. vor allem Eugens von Sa-
voyen, auch Worte der Anerkennung für Wilhelm von Oranien hu, und in dem
wir Urtheile über die Jesuiten, die Jansenistcn und die Aufhebung des Edicts von
Nantes finden, die keineswegs gut katholisch aussehen und welche die Gelehrten der
"Historisch-Politischen Blätter" schwerlich für koscher erklären werden. Besser werden
in jenem Kreise die beiden folgenden Bände gefallen, wo Preußen in der bekannten
Weise großdcutsch-katholischer Geschichtsbchandlung verarbeitet wird, und wo der
, Verfasser unter anderm nachweist, daß die Salzburger nicht durch den Fanatismus
Erzbischof Firmians von Haus und Hof verjagt, sondern von Friedrich Wilhelms
Sendungen, etwa in der Weise brasilischer Auswandernngsagentcn, aus ihrer be¬
haglichen Lage unter dem milden Krummstab Kinweggelockt worden sind, weil der
Preuße Menschen brauchte, um seine wüstliegcnden östlichen Provinzen zu bevölkern.
Friedrich der Große ist dann selbstverständlich nicht viel mehr als ein großer Räu¬
ber, wahrhaft groß nur Maria Theresia. Im voraus beklagt wird, daß der Plan,
den letztere bei Beginn des siebenjährigen Kriegs nach Gfrörcrs Meinung hatte, nicht
zur Ausführung kam. Nach diesem Plan würde Mitteleuropa sich nach dem Siege
der Koalition gegen Friedrich folgendermaßen gestaltet haben: Preußen getheilt, die


Glieder benetzen. Es ist mit dem Wunderglauben wie mit jenem Heiligen,
der nachdem er enthauptet worden war, mit dem Kopf unter dem Arme davon
ging. (?e n'est c^ne 1s Premier pas, «zur coule.




Vermischte Literatur.
Geschichte des achtzehnten Jahrhunderts von F. A. Gfrörer. Nach dem
Tode des Verfassers herausgegeben von I. B. Weiß, Professor der Geschichte an
der Universität Gratz. 1. bis Z. Band. Schaffhausen. Verlag der Fr. Hurtcrschen
Buchhandlung. 1862.

Vorlesungen. welche Gfrörer bis kurz vor seinem Ableben an der Universität
Frei bürg gehalten hat — mit welcher Tendenz, ist nickt nöthig ausführlich darzu¬
legen, da Verfasser und Verlag hinreichend bekannt sind. Es ist ein vom Prote¬
stantismus ins römische Lager übergcgangner Gelehrter, der hier zu uns spricht,
es ist ein Geschichtschreiber, der in den herrschsüchiigeu Bestrebungen Oestreichs, in
der spanischen Jntriguenpolitik des Hauses Habsburg nur das patriotische Bestreben
sieht, die Ehre Deutschlands zu retten und die Einheit des Reichs wiederherzustellen.
Neue Quellen sind nirgends benutzt, überhaupt geht der Verfasser nur selten in die
Tiefe. Im Uebrigen ist anzuerkennen, daß die Vorzüge, die Gfrörcrs Schriften im
Allgemeinen hüben, frische, kräftige Darstellung, künstlerische Gruppirung der Be¬
gebenheiten und große Uebcrsichilichkeit bei vollem Eingehen in die Einzelnheiten, leben¬
dige Auffassung des innern Zusammenhangs der Dinge und scharfe Cbaraktcrisiiung
der Situationen «ut Personen, so weit sein Auge nicht durch die eingeführte Ten¬
denz eine schiefe Richtung erhält, auch hier nicht mangeln. Am freiesten und un-
befangensten ist der erste Band gehalten, der neben feurigen Lobpreisungen Kaiser
Josephs des Ersten und andrer bedeutender Oestreichs. vor allem Eugens von Sa-
voyen, auch Worte der Anerkennung für Wilhelm von Oranien hu, und in dem
wir Urtheile über die Jesuiten, die Jansenistcn und die Aufhebung des Edicts von
Nantes finden, die keineswegs gut katholisch aussehen und welche die Gelehrten der
„Historisch-Politischen Blätter" schwerlich für koscher erklären werden. Besser werden
in jenem Kreise die beiden folgenden Bände gefallen, wo Preußen in der bekannten
Weise großdcutsch-katholischer Geschichtsbchandlung verarbeitet wird, und wo der
, Verfasser unter anderm nachweist, daß die Salzburger nicht durch den Fanatismus
Erzbischof Firmians von Haus und Hof verjagt, sondern von Friedrich Wilhelms
Sendungen, etwa in der Weise brasilischer Auswandernngsagentcn, aus ihrer be¬
haglichen Lage unter dem milden Krummstab Kinweggelockt worden sind, weil der
Preuße Menschen brauchte, um seine wüstliegcnden östlichen Provinzen zu bevölkern.
Friedrich der Große ist dann selbstverständlich nicht viel mehr als ein großer Räu¬
ber, wahrhaft groß nur Maria Theresia. Im voraus beklagt wird, daß der Plan,
den letztere bei Beginn des siebenjährigen Kriegs nach Gfrörcrs Meinung hatte, nicht
zur Ausführung kam. Nach diesem Plan würde Mitteleuropa sich nach dem Siege
der Koalition gegen Friedrich folgendermaßen gestaltet haben: Preußen getheilt, die


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 21, 1862, II. Semester. III. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341795_114313/532>, abgerufen am 25.08.2024.