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Die Grenzboten. Jg. 21, 1862, II. Semester. III. Band.

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beiden Novellen "Das Mädchen von Treppi" und namentlich ,,La Nabbiata"
eine Zierde unsrer erzählenden Dichtung bleiben und durch ihre maßvolle Kraft
immer bekunden, das? Paul Heyse jener "weichliche" Künstler nicht ist, wofür seine
Gegner ihn ausgeben, Rathlos jedoch tastet sein Talent umher, wenn er ein
reiches, widerspruchsvolles Mannesherz zu zeichnen versucht. In-solchem Falle
kann Paul Heyse in die verzwickteste Künstelei verfallen, so in jener vielgerühm¬
ten Novelle "Der Kreisrichter", die eine erkältende Absonderlichkeit ist, mag ihr
immerhin eine "wahre" Begebenheit zu Grunde liegen. Oder auch seine Kraft
erlahmt völlig, er versucht nichl einmal, die ernste psychologische Aufgabe zu
lösen. In der Novelle "Andrea Delfin" begegnen wir einem politischen Fana¬
tiker, der Mord auf Mord wagt, um Venedig vom Joche der Aristokratie zu
befreien; doch vergeblich harren wir, daß der Dichter uns zeigen werde, was
diese vulkanische Seele erfüllt. Wir werden gejagt durch Scenen des Grauens,
wir zittern, wenn der Mörder durch die Verstecke der finstern Gassen sich windet
-- und dieser sinnliche Reiz des Schreckens bildet den einzigen Inhalt der
Erzählung!

Dieses virtuose Formtalent hat in wenigen Jahren kaum ein Gebiet der
Poesie unbetreten gelassen, von der Nömcrtragödie und der in Wahrheit herr¬
lichen Uebersetzung italienischer Volkslieder bis herab zur Biergemüthlichkeit
einer Schnaderhüpfl-Novelle. Mustern wir die bunte Fülle dieser Schriften,
so finden wir keine. ti,e nicht geschmackvoll geschrieben und angenehm zu
lesen wäre, aber auch keine, die der Herzschlag unsrer Zeit und unsres Volkes
durchzitterte, und nur wenige, die der Hauch einer diesen, gewaltigen Empfin¬
dung erfüllt, nur wenige, bei denen wir, wie bei jenem "Italienischen Lieder¬
buche" freudig rufen: dies mußte er schreiben. Die Reihenfolge der Werte
bezeugt das zunehmende technische Geschick, doch nicht die Vertiefung der Ideen
des Dichteis und noch minder die Nothwendigkeit seiner Entwicklung.

Jenes Vorherrschen des Fvrmensinnes in Paul Heyse erklärt es auch, daß
er Stoffe bearbeiten konnte, welche der modernen Empfindung so fremd sind,
wie die Fabel der "Sabinerinnen". Ein Fehlgriff war diese Preistragödie,
nicht weil der Stoff einige Jahrrausende alt ist, nicht weil der Romulus in so
ganz modernen Worten redet -- oder wie sonst der landläufige ungerechte Tadel
lauten mag -- sondern weil der Conflict modernen Augen nimmermehr tragisch
erscheinen kann. Eine Welt, worin die Jungfern dutzendweise geraubt werden,
ist nach unserem Gefühle so brutal barbarisch, daß der Dichter der Gegenwart
sich mit Widerwillen davon abkehren müßte -- gäbe es nicht einen sehr nahe
liegenden Weg, selbst diese Situation für moderne Hörer poetisch zu idealisiren.
Welchem modernen Menschen kann das sehr starke komische Element dieses
Stoffs entgehen? Welch ein Reiz für einen schalkhaften Poeten, in einer mun¬
tern Novelle, die auch das Wagniß nicht scheute, zu schildern, wie der Ehestand


beiden Novellen „Das Mädchen von Treppi" und namentlich ,,La Nabbiata"
eine Zierde unsrer erzählenden Dichtung bleiben und durch ihre maßvolle Kraft
immer bekunden, das? Paul Heyse jener „weichliche" Künstler nicht ist, wofür seine
Gegner ihn ausgeben, Rathlos jedoch tastet sein Talent umher, wenn er ein
reiches, widerspruchsvolles Mannesherz zu zeichnen versucht. In-solchem Falle
kann Paul Heyse in die verzwickteste Künstelei verfallen, so in jener vielgerühm¬
ten Novelle „Der Kreisrichter", die eine erkältende Absonderlichkeit ist, mag ihr
immerhin eine „wahre" Begebenheit zu Grunde liegen. Oder auch seine Kraft
erlahmt völlig, er versucht nichl einmal, die ernste psychologische Aufgabe zu
lösen. In der Novelle „Andrea Delfin" begegnen wir einem politischen Fana¬
tiker, der Mord auf Mord wagt, um Venedig vom Joche der Aristokratie zu
befreien; doch vergeblich harren wir, daß der Dichter uns zeigen werde, was
diese vulkanische Seele erfüllt. Wir werden gejagt durch Scenen des Grauens,
wir zittern, wenn der Mörder durch die Verstecke der finstern Gassen sich windet
— und dieser sinnliche Reiz des Schreckens bildet den einzigen Inhalt der
Erzählung!

Dieses virtuose Formtalent hat in wenigen Jahren kaum ein Gebiet der
Poesie unbetreten gelassen, von der Nömcrtragödie und der in Wahrheit herr¬
lichen Uebersetzung italienischer Volkslieder bis herab zur Biergemüthlichkeit
einer Schnaderhüpfl-Novelle. Mustern wir die bunte Fülle dieser Schriften,
so finden wir keine. ti,e nicht geschmackvoll geschrieben und angenehm zu
lesen wäre, aber auch keine, die der Herzschlag unsrer Zeit und unsres Volkes
durchzitterte, und nur wenige, die der Hauch einer diesen, gewaltigen Empfin¬
dung erfüllt, nur wenige, bei denen wir, wie bei jenem „Italienischen Lieder¬
buche" freudig rufen: dies mußte er schreiben. Die Reihenfolge der Werte
bezeugt das zunehmende technische Geschick, doch nicht die Vertiefung der Ideen
des Dichteis und noch minder die Nothwendigkeit seiner Entwicklung.

Jenes Vorherrschen des Fvrmensinnes in Paul Heyse erklärt es auch, daß
er Stoffe bearbeiten konnte, welche der modernen Empfindung so fremd sind,
wie die Fabel der „Sabinerinnen". Ein Fehlgriff war diese Preistragödie,
nicht weil der Stoff einige Jahrrausende alt ist, nicht weil der Romulus in so
ganz modernen Worten redet — oder wie sonst der landläufige ungerechte Tadel
lauten mag — sondern weil der Conflict modernen Augen nimmermehr tragisch
erscheinen kann. Eine Welt, worin die Jungfern dutzendweise geraubt werden,
ist nach unserem Gefühle so brutal barbarisch, daß der Dichter der Gegenwart
sich mit Widerwillen davon abkehren müßte — gäbe es nicht einen sehr nahe
liegenden Weg, selbst diese Situation für moderne Hörer poetisch zu idealisiren.
Welchem modernen Menschen kann das sehr starke komische Element dieses
Stoffs entgehen? Welch ein Reiz für einen schalkhaften Poeten, in einer mun¬
tern Novelle, die auch das Wagniß nicht scheute, zu schildern, wie der Ehestand


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 21, 1862, II. Semester. III. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341795_114313/423>, abgerufen am 24.08.2024.