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Die Grenzboten. Jg. 21, 1862, II. Semester. III. Band.

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Reikiavik. Nur zwanzig Jahre vergingen, und jede Spur andächtigen Schön¬
heitssinnes schien hinweggefegt von der politischen Leidenschaft. Alles jubelte,
wenn die Meute gesinnungstüchtiger Zeitpoeten wider die vornehme Ruhe des
Fürstenknecbtcs Goethe lärmte, und das Vaterland forderte, wie ein Heros


"von der Dichtcrinnung,

jener Tage selbstgefällig sagt,


statt dem verbrauchten Leiertand
nur Muth und hieb're Gesinnung".

Von diesem Aeußersten unästhetischer Rohheit freilich, von diesem Selbst¬
mordsversuche der Poesie sind wir zurückgekommen. Der schwere Ernst der
staatlichen Arbeit lehrte uns die verschwommenen Phrasen der Tendcnzlyrik mi߬
achten, und jener schlichte Sinn für das Wahre, weicher das köstlichste Gut
der Gegenwart bildet, wandte sich mit Ekel von poetischen Gestalten, die kein
eigenes Leben lebten, nur das Mundstück waren für des Dichters politische
Meinungen.

Aber, die Hand aufs Herz, haben unsere Männer in Wahrheit jene banau¬
sische Denkweise überwunden, haben sie, inmitten aufreibender wirthschaftlicher
Arbeit und staatlicher Kämpfe, wieder gelernt, größer von der Kunst zu denken?
Wir wollen nicht allzubitter beklagen, daß die gesammte Lyrik heute lediglich
von den Frauen gelesen und geliebt wird und nur selten ein Mann von Geist
in verschämter Stille sich an seinem Horaz oder an den römischen Elegieen
erquickt: die Aufregung, die Härte, der Weltsinn des modernen Lebens verträgt
sich wenig mit lyrischer Empfindsamkeit. Und wenn in sehr zahlreichen und
sehr ehrenwerthen Kreisen ein junger Mann, von dem man nur weiß, er sei
ein Poet, mit vornehmem Lächeln empfangen wird, wenn man von ihm erwar¬
tet, er werde jenes Durchschnittsmaß von Verstand und Willenskraft erst be¬
weisen, das wir bei allen anderen Sterblichen voraussetzen: so sehen wir keinen
Anlaß sentimental und verstimmt zu werden ob dieser nothwendigen Folge der
poetischen Ueberproduction. Aber versucht es, in einem Kreise gebildeter Männer
die triviale Wahrheit zu verfechten, daß die Kunst für ein Culturvolk täglich
Brod, nicht ein erfreulicher Luxus sei: und Widerspruch und Gleichgültigkeit
wird Euch zeigen, wie sehr die politische und wirthschaftliche Arbeit den Formen¬
sinn verkümmert hat. Oder seht die Schlagworte der modernen Aesthetik, wie
sie lediglich am Stoffe .haften und aus dem Bereiche der Aesthetik hinaus¬
fallen. Patriotische Stoffe, ruft man, soll der Dichter wählen, nicht weil er
durch die Empfindungen seines heimathlichen Bodens den Leser am sichersten
und tiefsten erschüttern wird, sondern weil auch die Kunst den prosaischen
Zwecken des nationalen Interesses dienen müsse. Politische Dramen, heißt es,
wollen wir schauen, nicht weil in den großen staatlichen Kämpfen die Leiden¬
schaft in den gewaltigsten Formen erscheint, sondern weil die Bühne ihr Scherf-
lein beisteuern müsse zur politischen Volksbildung.


Reikiavik. Nur zwanzig Jahre vergingen, und jede Spur andächtigen Schön¬
heitssinnes schien hinweggefegt von der politischen Leidenschaft. Alles jubelte,
wenn die Meute gesinnungstüchtiger Zeitpoeten wider die vornehme Ruhe des
Fürstenknecbtcs Goethe lärmte, und das Vaterland forderte, wie ein Heros


„von der Dichtcrinnung,

jener Tage selbstgefällig sagt,


statt dem verbrauchten Leiertand
nur Muth und hieb're Gesinnung".

Von diesem Aeußersten unästhetischer Rohheit freilich, von diesem Selbst¬
mordsversuche der Poesie sind wir zurückgekommen. Der schwere Ernst der
staatlichen Arbeit lehrte uns die verschwommenen Phrasen der Tendcnzlyrik mi߬
achten, und jener schlichte Sinn für das Wahre, weicher das köstlichste Gut
der Gegenwart bildet, wandte sich mit Ekel von poetischen Gestalten, die kein
eigenes Leben lebten, nur das Mundstück waren für des Dichters politische
Meinungen.

Aber, die Hand aufs Herz, haben unsere Männer in Wahrheit jene banau¬
sische Denkweise überwunden, haben sie, inmitten aufreibender wirthschaftlicher
Arbeit und staatlicher Kämpfe, wieder gelernt, größer von der Kunst zu denken?
Wir wollen nicht allzubitter beklagen, daß die gesammte Lyrik heute lediglich
von den Frauen gelesen und geliebt wird und nur selten ein Mann von Geist
in verschämter Stille sich an seinem Horaz oder an den römischen Elegieen
erquickt: die Aufregung, die Härte, der Weltsinn des modernen Lebens verträgt
sich wenig mit lyrischer Empfindsamkeit. Und wenn in sehr zahlreichen und
sehr ehrenwerthen Kreisen ein junger Mann, von dem man nur weiß, er sei
ein Poet, mit vornehmem Lächeln empfangen wird, wenn man von ihm erwar¬
tet, er werde jenes Durchschnittsmaß von Verstand und Willenskraft erst be¬
weisen, das wir bei allen anderen Sterblichen voraussetzen: so sehen wir keinen
Anlaß sentimental und verstimmt zu werden ob dieser nothwendigen Folge der
poetischen Ueberproduction. Aber versucht es, in einem Kreise gebildeter Männer
die triviale Wahrheit zu verfechten, daß die Kunst für ein Culturvolk täglich
Brod, nicht ein erfreulicher Luxus sei: und Widerspruch und Gleichgültigkeit
wird Euch zeigen, wie sehr die politische und wirthschaftliche Arbeit den Formen¬
sinn verkümmert hat. Oder seht die Schlagworte der modernen Aesthetik, wie
sie lediglich am Stoffe .haften und aus dem Bereiche der Aesthetik hinaus¬
fallen. Patriotische Stoffe, ruft man, soll der Dichter wählen, nicht weil er
durch die Empfindungen seines heimathlichen Bodens den Leser am sichersten
und tiefsten erschüttern wird, sondern weil auch die Kunst den prosaischen
Zwecken des nationalen Interesses dienen müsse. Politische Dramen, heißt es,
wollen wir schauen, nicht weil in den großen staatlichen Kämpfen die Leiden¬
schaft in den gewaltigsten Formen erscheint, sondern weil die Bühne ihr Scherf-
lein beisteuern müsse zur politischen Volksbildung.


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[0421] Reikiavik. Nur zwanzig Jahre vergingen, und jede Spur andächtigen Schön¬ heitssinnes schien hinweggefegt von der politischen Leidenschaft. Alles jubelte, wenn die Meute gesinnungstüchtiger Zeitpoeten wider die vornehme Ruhe des Fürstenknecbtcs Goethe lärmte, und das Vaterland forderte, wie ein Heros „von der Dichtcrinnung, jener Tage selbstgefällig sagt, statt dem verbrauchten Leiertand nur Muth und hieb're Gesinnung". Von diesem Aeußersten unästhetischer Rohheit freilich, von diesem Selbst¬ mordsversuche der Poesie sind wir zurückgekommen. Der schwere Ernst der staatlichen Arbeit lehrte uns die verschwommenen Phrasen der Tendcnzlyrik mi߬ achten, und jener schlichte Sinn für das Wahre, weicher das köstlichste Gut der Gegenwart bildet, wandte sich mit Ekel von poetischen Gestalten, die kein eigenes Leben lebten, nur das Mundstück waren für des Dichters politische Meinungen. Aber, die Hand aufs Herz, haben unsere Männer in Wahrheit jene banau¬ sische Denkweise überwunden, haben sie, inmitten aufreibender wirthschaftlicher Arbeit und staatlicher Kämpfe, wieder gelernt, größer von der Kunst zu denken? Wir wollen nicht allzubitter beklagen, daß die gesammte Lyrik heute lediglich von den Frauen gelesen und geliebt wird und nur selten ein Mann von Geist in verschämter Stille sich an seinem Horaz oder an den römischen Elegieen erquickt: die Aufregung, die Härte, der Weltsinn des modernen Lebens verträgt sich wenig mit lyrischer Empfindsamkeit. Und wenn in sehr zahlreichen und sehr ehrenwerthen Kreisen ein junger Mann, von dem man nur weiß, er sei ein Poet, mit vornehmem Lächeln empfangen wird, wenn man von ihm erwar¬ tet, er werde jenes Durchschnittsmaß von Verstand und Willenskraft erst be¬ weisen, das wir bei allen anderen Sterblichen voraussetzen: so sehen wir keinen Anlaß sentimental und verstimmt zu werden ob dieser nothwendigen Folge der poetischen Ueberproduction. Aber versucht es, in einem Kreise gebildeter Männer die triviale Wahrheit zu verfechten, daß die Kunst für ein Culturvolk täglich Brod, nicht ein erfreulicher Luxus sei: und Widerspruch und Gleichgültigkeit wird Euch zeigen, wie sehr die politische und wirthschaftliche Arbeit den Formen¬ sinn verkümmert hat. Oder seht die Schlagworte der modernen Aesthetik, wie sie lediglich am Stoffe .haften und aus dem Bereiche der Aesthetik hinaus¬ fallen. Patriotische Stoffe, ruft man, soll der Dichter wählen, nicht weil er durch die Empfindungen seines heimathlichen Bodens den Leser am sichersten und tiefsten erschüttern wird, sondern weil auch die Kunst den prosaischen Zwecken des nationalen Interesses dienen müsse. Politische Dramen, heißt es, wollen wir schauen, nicht weil in den großen staatlichen Kämpfen die Leiden¬ schaft in den gewaltigsten Formen erscheint, sondern weil die Bühne ihr Scherf- lein beisteuern müsse zur politischen Volksbildung.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 21, 1862, II. Semester. III. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341795_114313/421>, abgerufen am 22.07.2024.