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Die Grenzboten. Jg. 21, 1862, II. Semester. III. Band.

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seine Darstellung vor einem bedeutungsvollen Mittelpunkt behütet. Nirgend
nimmt er auch nur einen Anlauf seine Komposition in einer Weise zu con-
centriren, wie es z. B. -- es gibt keine lehrreichere Parallele -- Leonardo da
Vinci in seinem Abendmahl gethan hat. Diesen Mittelpunkt hat sich der moderne
Künstler nicht nehmen lassen wollen. In vorzüglich gelungener Darstellung
gibt er uns im Kernpunkt des ganzen Bildes das Zusammenwirken Ilios
und Terzkys zum Erpresser einer rebellischen Unterschrift. Hiermit verzichtet er auf
jenes andere Genre und berechtigt zu Forderungen, welche nach der übrigen
Anlage des Bildes nicht erfüllt werden konnten.

Es bleibt wahr: die Fehler des Talents sind zwar die gefährlichsten Ver¬
führer, aber doch zuletzt die besten Wegweiser zum Rechten. Bei einem mittel¬
mäßigen Bilde würde sich der Beschauer mit untergeordneten Mängeln herum¬
zuschlagen haben. Ein Werk, das kühne Perspektiven ausschließt, drängt mit
diesem seinem Vorzuge unwillkürlich über das ganze Gebiet des Darstellbaren
hinaus und regt Fragen auf. die der gesammten Kunstgattung zu statten kommen.
Wie wenig sie bis heute in genügender Weise beantwortet sind, das mag diese
N. W. kurze Anregung in Erinnerung bringen.




Ein neuentdecktes Bild von Lessing.

Bekannt ist die aus Karl Lessings Biographie seines großen Bruders stam¬
mende Anekdote aus Gotthold Ephraim Lessings Jugend, nach welcher derselbe,
als er in seinem fünften Jahre gemalt werden sollte und der dazu bestellte
Künstler ihn mit einem Vogelbauer darstellen wollte, sich das verbat und ent¬
weder mit einem großen Haufen Bücher oder gar nicht gemalt sein wollte.
Der Maler -- es war derselbe, der dem Knaben später Zeichenunterricht er¬
theilte -- fügte sich dem kleinen Bücherfreunde, und das Bild lebte geraume
Zeit mit der Anekdote fort. Später verloren gegangen, wurde es vor einiger
Zeit in einer Dachkammer der Kirche zu Kamenz unter altem Gerümpel wieder
aufgefunden und dem dortigen Lessingstift übergeben. Hier sah es dann Pro¬
fessor Hettner aus Dresden, der sich dadurch veranlaßt fand, den Fund in wei¬
tern Kreisen bekannt zu machen. Derselbe sagte darüber im "Dresdener Jour¬
nal" ungefähr folgendes:

Das Bild ist nicht, wie die Schilderung des Biographen Lessings ver-


seine Darstellung vor einem bedeutungsvollen Mittelpunkt behütet. Nirgend
nimmt er auch nur einen Anlauf seine Komposition in einer Weise zu con-
centriren, wie es z. B. — es gibt keine lehrreichere Parallele — Leonardo da
Vinci in seinem Abendmahl gethan hat. Diesen Mittelpunkt hat sich der moderne
Künstler nicht nehmen lassen wollen. In vorzüglich gelungener Darstellung
gibt er uns im Kernpunkt des ganzen Bildes das Zusammenwirken Ilios
und Terzkys zum Erpresser einer rebellischen Unterschrift. Hiermit verzichtet er auf
jenes andere Genre und berechtigt zu Forderungen, welche nach der übrigen
Anlage des Bildes nicht erfüllt werden konnten.

Es bleibt wahr: die Fehler des Talents sind zwar die gefährlichsten Ver¬
führer, aber doch zuletzt die besten Wegweiser zum Rechten. Bei einem mittel¬
mäßigen Bilde würde sich der Beschauer mit untergeordneten Mängeln herum¬
zuschlagen haben. Ein Werk, das kühne Perspektiven ausschließt, drängt mit
diesem seinem Vorzuge unwillkürlich über das ganze Gebiet des Darstellbaren
hinaus und regt Fragen auf. die der gesammten Kunstgattung zu statten kommen.
Wie wenig sie bis heute in genügender Weise beantwortet sind, das mag diese
N. W. kurze Anregung in Erinnerung bringen.




Ein neuentdecktes Bild von Lessing.

Bekannt ist die aus Karl Lessings Biographie seines großen Bruders stam¬
mende Anekdote aus Gotthold Ephraim Lessings Jugend, nach welcher derselbe,
als er in seinem fünften Jahre gemalt werden sollte und der dazu bestellte
Künstler ihn mit einem Vogelbauer darstellen wollte, sich das verbat und ent¬
weder mit einem großen Haufen Bücher oder gar nicht gemalt sein wollte.
Der Maler — es war derselbe, der dem Knaben später Zeichenunterricht er¬
theilte — fügte sich dem kleinen Bücherfreunde, und das Bild lebte geraume
Zeit mit der Anekdote fort. Später verloren gegangen, wurde es vor einiger
Zeit in einer Dachkammer der Kirche zu Kamenz unter altem Gerümpel wieder
aufgefunden und dem dortigen Lessingstift übergeben. Hier sah es dann Pro¬
fessor Hettner aus Dresden, der sich dadurch veranlaßt fand, den Fund in wei¬
tern Kreisen bekannt zu machen. Derselbe sagte darüber im „Dresdener Jour¬
nal" ungefähr folgendes:

Das Bild ist nicht, wie die Schilderung des Biographen Lessings ver-


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[0159] seine Darstellung vor einem bedeutungsvollen Mittelpunkt behütet. Nirgend nimmt er auch nur einen Anlauf seine Komposition in einer Weise zu con- centriren, wie es z. B. — es gibt keine lehrreichere Parallele — Leonardo da Vinci in seinem Abendmahl gethan hat. Diesen Mittelpunkt hat sich der moderne Künstler nicht nehmen lassen wollen. In vorzüglich gelungener Darstellung gibt er uns im Kernpunkt des ganzen Bildes das Zusammenwirken Ilios und Terzkys zum Erpresser einer rebellischen Unterschrift. Hiermit verzichtet er auf jenes andere Genre und berechtigt zu Forderungen, welche nach der übrigen Anlage des Bildes nicht erfüllt werden konnten. Es bleibt wahr: die Fehler des Talents sind zwar die gefährlichsten Ver¬ führer, aber doch zuletzt die besten Wegweiser zum Rechten. Bei einem mittel¬ mäßigen Bilde würde sich der Beschauer mit untergeordneten Mängeln herum¬ zuschlagen haben. Ein Werk, das kühne Perspektiven ausschließt, drängt mit diesem seinem Vorzuge unwillkürlich über das ganze Gebiet des Darstellbaren hinaus und regt Fragen auf. die der gesammten Kunstgattung zu statten kommen. Wie wenig sie bis heute in genügender Weise beantwortet sind, das mag diese N. W. kurze Anregung in Erinnerung bringen. Ein neuentdecktes Bild von Lessing. Bekannt ist die aus Karl Lessings Biographie seines großen Bruders stam¬ mende Anekdote aus Gotthold Ephraim Lessings Jugend, nach welcher derselbe, als er in seinem fünften Jahre gemalt werden sollte und der dazu bestellte Künstler ihn mit einem Vogelbauer darstellen wollte, sich das verbat und ent¬ weder mit einem großen Haufen Bücher oder gar nicht gemalt sein wollte. Der Maler — es war derselbe, der dem Knaben später Zeichenunterricht er¬ theilte — fügte sich dem kleinen Bücherfreunde, und das Bild lebte geraume Zeit mit der Anekdote fort. Später verloren gegangen, wurde es vor einiger Zeit in einer Dachkammer der Kirche zu Kamenz unter altem Gerümpel wieder aufgefunden und dem dortigen Lessingstift übergeben. Hier sah es dann Pro¬ fessor Hettner aus Dresden, der sich dadurch veranlaßt fand, den Fund in wei¬ tern Kreisen bekannt zu machen. Derselbe sagte darüber im „Dresdener Jour¬ nal" ungefähr folgendes: Das Bild ist nicht, wie die Schilderung des Biographen Lessings ver-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 21, 1862, II. Semester. III. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341795_114313/159>, abgerufen am 22.07.2024.