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Die Grenzboten. Jg. 21, 1862, I. Semester. II. Band.

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Salamanca über die viel angefochtenen Schriften des Vesal berief, welches die
Frage beantworten'mußte, ob es einem Katholiken gestattet sei, menschliche Lei¬
chen zu öffnen. Die Mönche, freisinniger als vielleicht heutzutage ihre Nach¬
folger, entschieden: es sei nützlich -- also auel erlaubt.

Es war der Geist der Reformation, welcher die Welt mit frischem Hauche
erfüllte, die alten Perrücken lüftete, den Staub von den vergilbten Pergamen¬
ten fegte und die Menschen wieder an die frische Quelle der Natur und der
Selbstbeobachtung zurückführte. Mit dem Geschmacke für die alten Wissen¬
schaften erwachte auch der Geschmack an der Naturforschung. Die Kritik be¬
gann sich zu regen, die eigne Untersuchung trat in den Vordergrund, der Buch¬
stabenglaube wurde von Grund aus erschüttert und so ward denn auch endlich
die Autorität des Aristoteles und des Galen, welche lange Jahrhunderte uner¬
schütterlich geherrscht hatten, gestürzt. Auch hier war es ein Germane, welcher
den romanischen Geist an der Wurzel traf. In Vesal, dessen Geschlecht aus
Wesel am Rhein stammte, einem gebornen Brüsseler, fand die anatomische For¬
schung einen ebenso rüstigen wie unermüdlichen, einen ebenso unbefangenen
wie scharfsinnigen Kämpfer, welcher der Medicin von Neuem diejenige Grund¬
lage wieder eroberte, welcher sie nimmer entbehren kann, wenn sie sich aus
dem bloßen Handwerke zur Wissenschaft, aus der dürren Speculation zur ech¬
ten Empirie erheben soll. Freilich hat es noch lange gedauert, ehe auch die
eigentliche Controle der Pathologie, die pathologische Anatomie von dem wieder¬
gewonnenen Boden der beschreibenden Anatomie das ihr gehörige Gebiet sich
wieder eroberte und ehe man zu denjenigen Gesichtspunkten zurückkehrte, welche
schon Aretaeus aufgestellt hatte. Schon vor Vesal hatten einzelne Anatomen,
wie Antonio Benivieni in dieser Richtung gearbeitet. Vesal selbst hatte beab¬
sichtigt seine pathologischen Beobachtungen zu einem größeren Werke, an dessen
Ausführung er indeß durch feinen frühzeitigen Tod verhindert wurde, zusammen¬
zustellen. Auch war die große Zeit der Reformation der Anatomie, welche ne¬
ben Vesal die glänzenden Namen Eustachi, Fallopia. Jngrassia nennt, sich dieser
Richtung sehr wohl bewußt; man verkannte keineswegs, daß die anatomischen
Studien schließlich die genauere Erkenntniß der Krankheiten zu fördern wesent¬
lich bestimmt seien, und einzelne jener Forscher, wie z. B. Rembert Dodoens,
forderten geradezu die Leicheneröffnung zur Vervollständigung der Kenntnisse
von den einzelnen Krankheiten, indem es keine andere Weise gebe sich schnell
und sicher Aufschluß über verborgene und seltene Krankheiten zu verschaffen,
als die anatomische Untersuchung. Doch waren es Anfangs eben vorzugs¬
weise die "seltenen Fälle." auf welche man sein Augenmerk richtete, und es
verging noch eine lange Zeit, ehe man den Leichenbefund auch für die gewöhn¬
lichen Krankheiten verwerthete. Die Ersten, welche diesen Weg betraten, wie
Peter Forestus und namentlich Giov. Bat. Morgagni, gingen dabei noch von der


Salamanca über die viel angefochtenen Schriften des Vesal berief, welches die
Frage beantworten'mußte, ob es einem Katholiken gestattet sei, menschliche Lei¬
chen zu öffnen. Die Mönche, freisinniger als vielleicht heutzutage ihre Nach¬
folger, entschieden: es sei nützlich — also auel erlaubt.

Es war der Geist der Reformation, welcher die Welt mit frischem Hauche
erfüllte, die alten Perrücken lüftete, den Staub von den vergilbten Pergamen¬
ten fegte und die Menschen wieder an die frische Quelle der Natur und der
Selbstbeobachtung zurückführte. Mit dem Geschmacke für die alten Wissen¬
schaften erwachte auch der Geschmack an der Naturforschung. Die Kritik be¬
gann sich zu regen, die eigne Untersuchung trat in den Vordergrund, der Buch¬
stabenglaube wurde von Grund aus erschüttert und so ward denn auch endlich
die Autorität des Aristoteles und des Galen, welche lange Jahrhunderte uner¬
schütterlich geherrscht hatten, gestürzt. Auch hier war es ein Germane, welcher
den romanischen Geist an der Wurzel traf. In Vesal, dessen Geschlecht aus
Wesel am Rhein stammte, einem gebornen Brüsseler, fand die anatomische For¬
schung einen ebenso rüstigen wie unermüdlichen, einen ebenso unbefangenen
wie scharfsinnigen Kämpfer, welcher der Medicin von Neuem diejenige Grund¬
lage wieder eroberte, welcher sie nimmer entbehren kann, wenn sie sich aus
dem bloßen Handwerke zur Wissenschaft, aus der dürren Speculation zur ech¬
ten Empirie erheben soll. Freilich hat es noch lange gedauert, ehe auch die
eigentliche Controle der Pathologie, die pathologische Anatomie von dem wieder¬
gewonnenen Boden der beschreibenden Anatomie das ihr gehörige Gebiet sich
wieder eroberte und ehe man zu denjenigen Gesichtspunkten zurückkehrte, welche
schon Aretaeus aufgestellt hatte. Schon vor Vesal hatten einzelne Anatomen,
wie Antonio Benivieni in dieser Richtung gearbeitet. Vesal selbst hatte beab¬
sichtigt seine pathologischen Beobachtungen zu einem größeren Werke, an dessen
Ausführung er indeß durch feinen frühzeitigen Tod verhindert wurde, zusammen¬
zustellen. Auch war die große Zeit der Reformation der Anatomie, welche ne¬
ben Vesal die glänzenden Namen Eustachi, Fallopia. Jngrassia nennt, sich dieser
Richtung sehr wohl bewußt; man verkannte keineswegs, daß die anatomischen
Studien schließlich die genauere Erkenntniß der Krankheiten zu fördern wesent¬
lich bestimmt seien, und einzelne jener Forscher, wie z. B. Rembert Dodoens,
forderten geradezu die Leicheneröffnung zur Vervollständigung der Kenntnisse
von den einzelnen Krankheiten, indem es keine andere Weise gebe sich schnell
und sicher Aufschluß über verborgene und seltene Krankheiten zu verschaffen,
als die anatomische Untersuchung. Doch waren es Anfangs eben vorzugs¬
weise die „seltenen Fälle." auf welche man sein Augenmerk richtete, und es
verging noch eine lange Zeit, ehe man den Leichenbefund auch für die gewöhn¬
lichen Krankheiten verwerthete. Die Ersten, welche diesen Weg betraten, wie
Peter Forestus und namentlich Giov. Bat. Morgagni, gingen dabei noch von der


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[0429] Salamanca über die viel angefochtenen Schriften des Vesal berief, welches die Frage beantworten'mußte, ob es einem Katholiken gestattet sei, menschliche Lei¬ chen zu öffnen. Die Mönche, freisinniger als vielleicht heutzutage ihre Nach¬ folger, entschieden: es sei nützlich — also auel erlaubt. Es war der Geist der Reformation, welcher die Welt mit frischem Hauche erfüllte, die alten Perrücken lüftete, den Staub von den vergilbten Pergamen¬ ten fegte und die Menschen wieder an die frische Quelle der Natur und der Selbstbeobachtung zurückführte. Mit dem Geschmacke für die alten Wissen¬ schaften erwachte auch der Geschmack an der Naturforschung. Die Kritik be¬ gann sich zu regen, die eigne Untersuchung trat in den Vordergrund, der Buch¬ stabenglaube wurde von Grund aus erschüttert und so ward denn auch endlich die Autorität des Aristoteles und des Galen, welche lange Jahrhunderte uner¬ schütterlich geherrscht hatten, gestürzt. Auch hier war es ein Germane, welcher den romanischen Geist an der Wurzel traf. In Vesal, dessen Geschlecht aus Wesel am Rhein stammte, einem gebornen Brüsseler, fand die anatomische For¬ schung einen ebenso rüstigen wie unermüdlichen, einen ebenso unbefangenen wie scharfsinnigen Kämpfer, welcher der Medicin von Neuem diejenige Grund¬ lage wieder eroberte, welcher sie nimmer entbehren kann, wenn sie sich aus dem bloßen Handwerke zur Wissenschaft, aus der dürren Speculation zur ech¬ ten Empirie erheben soll. Freilich hat es noch lange gedauert, ehe auch die eigentliche Controle der Pathologie, die pathologische Anatomie von dem wieder¬ gewonnenen Boden der beschreibenden Anatomie das ihr gehörige Gebiet sich wieder eroberte und ehe man zu denjenigen Gesichtspunkten zurückkehrte, welche schon Aretaeus aufgestellt hatte. Schon vor Vesal hatten einzelne Anatomen, wie Antonio Benivieni in dieser Richtung gearbeitet. Vesal selbst hatte beab¬ sichtigt seine pathologischen Beobachtungen zu einem größeren Werke, an dessen Ausführung er indeß durch feinen frühzeitigen Tod verhindert wurde, zusammen¬ zustellen. Auch war die große Zeit der Reformation der Anatomie, welche ne¬ ben Vesal die glänzenden Namen Eustachi, Fallopia. Jngrassia nennt, sich dieser Richtung sehr wohl bewußt; man verkannte keineswegs, daß die anatomischen Studien schließlich die genauere Erkenntniß der Krankheiten zu fördern wesent¬ lich bestimmt seien, und einzelne jener Forscher, wie z. B. Rembert Dodoens, forderten geradezu die Leicheneröffnung zur Vervollständigung der Kenntnisse von den einzelnen Krankheiten, indem es keine andere Weise gebe sich schnell und sicher Aufschluß über verborgene und seltene Krankheiten zu verschaffen, als die anatomische Untersuchung. Doch waren es Anfangs eben vorzugs¬ weise die „seltenen Fälle." auf welche man sein Augenmerk richtete, und es verging noch eine lange Zeit, ehe man den Leichenbefund auch für die gewöhn¬ lichen Krankheiten verwerthete. Die Ersten, welche diesen Weg betraten, wie Peter Forestus und namentlich Giov. Bat. Morgagni, gingen dabei noch von der

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 21, 1862, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341795_113779/429>, abgerufen am 08.01.2025.