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Die Grenzboten. Jg. 21, 1862, I. Semester. II. Band.

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Ansicht aus, daß der Leichenbefund eben nur zur Erläuterung der Symptome
der Krankheit diene; und ihre nächsten Nachfolger waren eigentlich nur Samm¬
ler im guten und schlechten Sinne, die ein möglichst großes Material aufzu¬
häufen bestrebt waren. Die wahre Bedeutung der anatomisch nachweisbaren
Veränderungen der Organe in dem Sinne, als sie das einzig und allein, einer
exacten Untersuchung zugängliche Material der Krankhciteert'cnntniß sind, hat
erst die neue Zeit erfaßt, und die gegenwärtige wissenschaftliche Bewegung in
der Medicin dreht sich recht eigentlich um die Anerkennung der pathologisch-
anatomischen Richtung als der einzig maßgebenden.

Blicken wir aber nochmals zurück aus jene Zeit des Jahrhunderte langen
Stillstands, so beschleicht uns leicht die Besorgniß, ob wir nicht selbst einmal
einer solchen gänzlichen Umkehr der Wissenschaft wieder entgegengehen können.
Wird doch eine solche von denen, die in der wissenschaftlichen Forschung einen
Eingriff in die göttliche Ordnung der Dinge zu erblicken vorgeben, sehnlichst herbei¬
gewünscht. Eine Reaction auf dem Boden der Wissenschaft ist aber heutzutage
so gut wie eine Reaction in der Politik nur noch auf Zeiten und bei einzel¬
nen Völkern möglich. Die wissenschaftlichen Bestrebungen sind nicht mehr
ausschließlich in den Händen eines Volkes noch einer abgeschlossenen Kaste,
sie sind ein Gemeingut Aller, wie die Interessen der Humanität und die Frei¬
heit solidarisch mit den Forderungen der modernen Cultur verbunden sind.
Ueber einzelne Perioden einer localen Reaction geht die Geschichte gar bald
zur Tagesordnung über. Es ist nicht mehr eine kleine und schwache Menschen¬
zahl wie im Ausgange des Alterthums, es sind die Völker des Erdkreises.
Welche von der Frucht der Erkenntniß. genossen haben. Mit der Wissenschaft
un Bunde schreitet die Industrie einher, die Mittel und Wege, welche der
Wahrheit den Sieg sichern, vervielfältigend. Dirs Bedürfniß nach einer fort¬
schreitenden Erkenntniß, nach der unbeschränkten freien Forschung, das Bedürf¬
niß nach Wahrheit und nach Licht werden weder diejenigen Barbaren unterdrücken
können, welche in der Unterdrückung der freien Forschung ihre eigne Herrschaft
sichern wollen, noch diejenigen, welche etwa im fernen Osten die Erde von
Neuem gebären könnte. Nur in uns selbst liegt die Gefahr; wenn wir er¬
schlaffen, wenn der Autoritätsglaube auch bei uns einmal den Sieg davon
trägt, so kann die Reaction für eine kurze Zeit siegen. Aber auch nur für
kurze Zeit, denn der Wissensdrang hat alle Völker zur Theilnahme an dem
Fortschritte erreicht, und es fällt bald der einen bald der andern Nation die
Rolle zu, die Fahne des Fortschritts voranzutragen. So ist denn auch auf je¬
dem Einzelgebiete des Wissens, welches doch immer nur in seinem Zusammen¬
hange mit der ganzen Cultur seine wahre Bedeutung findet, ein Stillstand in
ähnlicher Weise, wie er schon einmal stattgefunden hat, kaum mehr denkbar.


C. Otto Weber.


Ansicht aus, daß der Leichenbefund eben nur zur Erläuterung der Symptome
der Krankheit diene; und ihre nächsten Nachfolger waren eigentlich nur Samm¬
ler im guten und schlechten Sinne, die ein möglichst großes Material aufzu¬
häufen bestrebt waren. Die wahre Bedeutung der anatomisch nachweisbaren
Veränderungen der Organe in dem Sinne, als sie das einzig und allein, einer
exacten Untersuchung zugängliche Material der Krankhciteert'cnntniß sind, hat
erst die neue Zeit erfaßt, und die gegenwärtige wissenschaftliche Bewegung in
der Medicin dreht sich recht eigentlich um die Anerkennung der pathologisch-
anatomischen Richtung als der einzig maßgebenden.

Blicken wir aber nochmals zurück aus jene Zeit des Jahrhunderte langen
Stillstands, so beschleicht uns leicht die Besorgniß, ob wir nicht selbst einmal
einer solchen gänzlichen Umkehr der Wissenschaft wieder entgegengehen können.
Wird doch eine solche von denen, die in der wissenschaftlichen Forschung einen
Eingriff in die göttliche Ordnung der Dinge zu erblicken vorgeben, sehnlichst herbei¬
gewünscht. Eine Reaction auf dem Boden der Wissenschaft ist aber heutzutage
so gut wie eine Reaction in der Politik nur noch auf Zeiten und bei einzel¬
nen Völkern möglich. Die wissenschaftlichen Bestrebungen sind nicht mehr
ausschließlich in den Händen eines Volkes noch einer abgeschlossenen Kaste,
sie sind ein Gemeingut Aller, wie die Interessen der Humanität und die Frei¬
heit solidarisch mit den Forderungen der modernen Cultur verbunden sind.
Ueber einzelne Perioden einer localen Reaction geht die Geschichte gar bald
zur Tagesordnung über. Es ist nicht mehr eine kleine und schwache Menschen¬
zahl wie im Ausgange des Alterthums, es sind die Völker des Erdkreises.
Welche von der Frucht der Erkenntniß. genossen haben. Mit der Wissenschaft
un Bunde schreitet die Industrie einher, die Mittel und Wege, welche der
Wahrheit den Sieg sichern, vervielfältigend. Dirs Bedürfniß nach einer fort¬
schreitenden Erkenntniß, nach der unbeschränkten freien Forschung, das Bedürf¬
niß nach Wahrheit und nach Licht werden weder diejenigen Barbaren unterdrücken
können, welche in der Unterdrückung der freien Forschung ihre eigne Herrschaft
sichern wollen, noch diejenigen, welche etwa im fernen Osten die Erde von
Neuem gebären könnte. Nur in uns selbst liegt die Gefahr; wenn wir er¬
schlaffen, wenn der Autoritätsglaube auch bei uns einmal den Sieg davon
trägt, so kann die Reaction für eine kurze Zeit siegen. Aber auch nur für
kurze Zeit, denn der Wissensdrang hat alle Völker zur Theilnahme an dem
Fortschritte erreicht, und es fällt bald der einen bald der andern Nation die
Rolle zu, die Fahne des Fortschritts voranzutragen. So ist denn auch auf je¬
dem Einzelgebiete des Wissens, welches doch immer nur in seinem Zusammen¬
hange mit der ganzen Cultur seine wahre Bedeutung findet, ein Stillstand in
ähnlicher Weise, wie er schon einmal stattgefunden hat, kaum mehr denkbar.


C. Otto Weber.


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 21, 1862, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341795_113779/430>, abgerufen am 06.01.2025.