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Die Grenzboten. Jg. 21, 1862, I. Semester. II. Band.

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langte, welche alle selbständige Forschung überflüssig und entbehrlich erscheinen
ließ. Trotzdem finden sich auch später noch Spuren,-welche beweisen, daß man
die Anatomie nicht gänzlich vernachlässigte, wie denn Alexander von Tralles
im 6. Jahrhunderte nicht blos Nierensteine kannte, sondern auch steinige Ver¬
härtungen in den Lungen beschrieb, und noch im 8. Jahrhundert ging aus
der, Alexandrinischen Schule Paul von Aegina hervor, dessen Verdienste um die
Chirurgie nicht unbedeutende anatomische Kenntnisse verrathen: überhaupt sind
es begreiflicher Weise die Chirurgen, welche sich nie ganz von der Anatomie
lossagten, und daher auch weniger leicht in nichtige Speculationen sich einließen.
Der nüchterne Sinn, den das Handwerk fordert, die Kaltblütigkeit, welche allein
den guten Chirurgen macht, hat die Chirurgie vor vielen Abwegen behütet, und
ihre Vertreter auf das Studium der Natur immer wieder zurückgeführt, wenn sich
die innere Medicin noch so sehr in labyrinthische Jrrgänge hatte locken lassen.

Bei den Arabern, welche als die nächsten Crben der griechischen Medicin
zu betrachten sind, welche dieselbe aber freilich meistens aus schlechten Ueber¬
setzungen, aus dem Griechischen ins Syrische und aus diesem erst in ihre
Muttersprache, kannten, lag in der Religion des Islam, welche die'unbedingte
Ergebung in den göttlichen Willen vorschrieb und das eigene Denken als
Frevel wider die Gottheit bezeichnete, das Haupthinderniß gegen eigne Un¬
tersuchungen! doch machten namentlich auch unde" ihnen einige Chirurgen wie
Abdollatif, Albucasis und Avenzoar auf die Nothwendigkeit anatomischer
Kenntnisse aufmerksam, ja der Erstere untersuchte den menschlichen Knochenbau
in den Leichenhäusern, um die Beschreibungen des Galen zu controliren.
Schlimmer fast noch erging es der Anatomie in den ersten Zeiten der christ¬
lichen Cultur. Das salische Gesetz erklärte den Verkehr mit solchen, die eine
Leiche ausgruben, für infam, die Kirche verbot namentlich den mönchischen
Schulen, welche dürftig die Reste der griechischen Medicin erhielten, alle chirur¬
gischen Operationen, ganz besonders aber die Leicheneröffnungen, wobei die tirch-
iche Lehre von der Auferstehung des Leibes natürlich das Haupthinderniß bil¬
dete. Mit dem Zurücktreten der Chirurgie siel ein sehr wichtiges Anregungs¬
mittel für die Verfolgung anatomischer Studien hinweg; die mönchischen Schu¬
len waren wesentlich pharmaceutische Lehranstalten, und cultivirten demnach
mehr die Quacksalberei als die wissenschaftliche Medicin, die Chirurgie selbst
wurde den Bädern und herumziehenden Steinschneidern, Staarstechern und
Zahnärzten überlassen. Die Anatomie trat gänzlich zurück. Ja in der berühm¬
ten medicinischen Schule zu Salerno mußte der Student drei Jahre lang Logik
hören. Droguenkunde und Pharmazie betreiben, von der Anatomie war kaum
die Rede. Erst der freisinnige und im Geiste des classischen Alterthums gebildete
Friedrich der Zweite, welcher auf den Schulen zu Bologna, Ferrara, Padua
und Pavia das Studium der Alten einführte, reformirte auch die Salernita-


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langte, welche alle selbständige Forschung überflüssig und entbehrlich erscheinen
ließ. Trotzdem finden sich auch später noch Spuren,-welche beweisen, daß man
die Anatomie nicht gänzlich vernachlässigte, wie denn Alexander von Tralles
im 6. Jahrhunderte nicht blos Nierensteine kannte, sondern auch steinige Ver¬
härtungen in den Lungen beschrieb, und noch im 8. Jahrhundert ging aus
der, Alexandrinischen Schule Paul von Aegina hervor, dessen Verdienste um die
Chirurgie nicht unbedeutende anatomische Kenntnisse verrathen: überhaupt sind
es begreiflicher Weise die Chirurgen, welche sich nie ganz von der Anatomie
lossagten, und daher auch weniger leicht in nichtige Speculationen sich einließen.
Der nüchterne Sinn, den das Handwerk fordert, die Kaltblütigkeit, welche allein
den guten Chirurgen macht, hat die Chirurgie vor vielen Abwegen behütet, und
ihre Vertreter auf das Studium der Natur immer wieder zurückgeführt, wenn sich
die innere Medicin noch so sehr in labyrinthische Jrrgänge hatte locken lassen.

Bei den Arabern, welche als die nächsten Crben der griechischen Medicin
zu betrachten sind, welche dieselbe aber freilich meistens aus schlechten Ueber¬
setzungen, aus dem Griechischen ins Syrische und aus diesem erst in ihre
Muttersprache, kannten, lag in der Religion des Islam, welche die'unbedingte
Ergebung in den göttlichen Willen vorschrieb und das eigene Denken als
Frevel wider die Gottheit bezeichnete, das Haupthinderniß gegen eigne Un¬
tersuchungen! doch machten namentlich auch unde» ihnen einige Chirurgen wie
Abdollatif, Albucasis und Avenzoar auf die Nothwendigkeit anatomischer
Kenntnisse aufmerksam, ja der Erstere untersuchte den menschlichen Knochenbau
in den Leichenhäusern, um die Beschreibungen des Galen zu controliren.
Schlimmer fast noch erging es der Anatomie in den ersten Zeiten der christ¬
lichen Cultur. Das salische Gesetz erklärte den Verkehr mit solchen, die eine
Leiche ausgruben, für infam, die Kirche verbot namentlich den mönchischen
Schulen, welche dürftig die Reste der griechischen Medicin erhielten, alle chirur¬
gischen Operationen, ganz besonders aber die Leicheneröffnungen, wobei die tirch-
iche Lehre von der Auferstehung des Leibes natürlich das Haupthinderniß bil¬
dete. Mit dem Zurücktreten der Chirurgie siel ein sehr wichtiges Anregungs¬
mittel für die Verfolgung anatomischer Studien hinweg; die mönchischen Schu¬
len waren wesentlich pharmaceutische Lehranstalten, und cultivirten demnach
mehr die Quacksalberei als die wissenschaftliche Medicin, die Chirurgie selbst
wurde den Bädern und herumziehenden Steinschneidern, Staarstechern und
Zahnärzten überlassen. Die Anatomie trat gänzlich zurück. Ja in der berühm¬
ten medicinischen Schule zu Salerno mußte der Student drei Jahre lang Logik
hören. Droguenkunde und Pharmazie betreiben, von der Anatomie war kaum
die Rede. Erst der freisinnige und im Geiste des classischen Alterthums gebildete
Friedrich der Zweite, welcher auf den Schulen zu Bologna, Ferrara, Padua
und Pavia das Studium der Alten einführte, reformirte auch die Salernita-


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 21, 1862, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341795_113779/427>, abgerufen am 08.01.2025.