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Die Grenzboten. Jg. 21, 1862, I. Semester. II. Band.

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er weiß schon, daß sich die vom Gehirn ausgehenden Nerven kreuzen, während
die aus dem Rückenmarke entspringenden auf derselben Seite verlaufen, und
erklärt aus diesem Verhältnisse ganz richtig, wie vom Gehirn ausgehende
Lähmungen auf der entgegengesetzten, vom Rückenmarke abhängige auf derselben
Seite bemerkbar werden -- kurz er gibt so mannigfache Beweise eines ebenso
gründlichen, als erfolgreichen Studiums, daß wir erstaunt fragen, wie ist es
möglich, daß derartige pathologisch-anatomische Forschungen so lange Jahrhun-
derte fruchtlos vergraben blieben; daß so viele richtige Angaben des Aretaeus
erst die Neuzeit wieder entdecken mußte.

Allerdings ist nun. auch Aretaeus. der einzige classische Schriftsteller, welcher
in solcher Art die Anatomie zu verwerthen verstand, und mit ihm erlöschen die
Spuren einer wohlthätigen Rückwirkung der Anatomie auf die Praxis fast voll¬
ständig. Nur bei Caelius Aurelianus, welcher im 4. oder 5. Jahrhunderte unse¬
rer Zeitrechnung lebte, der indeß meist nur die Äerke früherer Methodiker, be¬
sonders des Svranus compilirte, finden wir noch die Anatomie in ähnlicher
Weise als Basis der Diagnostik wie bei Aretaeus, und bei jeder Krankheit
stets ein besonderes Kapitel über den Sitz derselben vorausgeschickt, ohne daß
indeß wesentlich neue Entdeckungen auf diesem Gebiete bemerkbar wären.

Das Werk des Celsus, dessen wir oben vorübergehend erwähnten, und
welches mit Recht als eine Art Codex der alten Medicin gilt, hat für unsern
Zweck kaum eine Bedeutung. Celsus schrieb eine Art Encyklopädie der Künste
und technischen Wissenschaften zum Gebrauche für Landwirthe, wie wir deren
ja auch heute besitzen. Die Bücher über die Medicin enthalten daher wesent¬
lich praktische, weniger rein wissenschaftliche Darstellungen, ja es ist nicht ein¬
mal ganz sicher, daß Celsus selbst die Medicin praktisch ausgeübt habe, was
freilich Alles dem Hoden Werthe des Werkes keinen Eintrag thut.

Viel weniger klar als die Beschreibungen des Aretaeus sind die freilich oft
glänzenden und bestechenden Krankheitsbilder. welche Galen entwirft, indem sie
deutlich den Mangel eigner anatomischer Anschauung bekunden. Bei ihm stand
schon die Neigung zur Spekulation einer derartigen Untersuchungsmethode sehr
im Wege, und die Krasenlehre, welche wieder alle Krankheiten auf ein lediglich
supponirtes Pneuma, oder auf die Lebensgeister, welche man neulichst wie¬
der hat auferwecken wollen, so wie auf die Mischungen der Elemente des Kalten,
Warmen. Trocknen und Feuchten zurückführte, verdrängte die solidarpatholo-
gische Auffassung. Nicht minder verderblich wirkte die oft sehr gewaltsam den
Thatsachen aufgezwängte dunkle und confuse Theorie, die mit den anatomischen
Thatsachen fast außer allem Zusammenhange steht, die aber nichts destowe-
niger auf alle Fragen eine Antwort, für jedes Räthsel eine Lösung bereit hat.
Eben daher kam es, daß man sich so leicht bei dieser bequemen Auffassung be¬
ruhigte und das Galenische System gar bald zur unbeschränkten Herrschaft ge-


er weiß schon, daß sich die vom Gehirn ausgehenden Nerven kreuzen, während
die aus dem Rückenmarke entspringenden auf derselben Seite verlaufen, und
erklärt aus diesem Verhältnisse ganz richtig, wie vom Gehirn ausgehende
Lähmungen auf der entgegengesetzten, vom Rückenmarke abhängige auf derselben
Seite bemerkbar werden — kurz er gibt so mannigfache Beweise eines ebenso
gründlichen, als erfolgreichen Studiums, daß wir erstaunt fragen, wie ist es
möglich, daß derartige pathologisch-anatomische Forschungen so lange Jahrhun-
derte fruchtlos vergraben blieben; daß so viele richtige Angaben des Aretaeus
erst die Neuzeit wieder entdecken mußte.

Allerdings ist nun. auch Aretaeus. der einzige classische Schriftsteller, welcher
in solcher Art die Anatomie zu verwerthen verstand, und mit ihm erlöschen die
Spuren einer wohlthätigen Rückwirkung der Anatomie auf die Praxis fast voll¬
ständig. Nur bei Caelius Aurelianus, welcher im 4. oder 5. Jahrhunderte unse¬
rer Zeitrechnung lebte, der indeß meist nur die Äerke früherer Methodiker, be¬
sonders des Svranus compilirte, finden wir noch die Anatomie in ähnlicher
Weise als Basis der Diagnostik wie bei Aretaeus, und bei jeder Krankheit
stets ein besonderes Kapitel über den Sitz derselben vorausgeschickt, ohne daß
indeß wesentlich neue Entdeckungen auf diesem Gebiete bemerkbar wären.

Das Werk des Celsus, dessen wir oben vorübergehend erwähnten, und
welches mit Recht als eine Art Codex der alten Medicin gilt, hat für unsern
Zweck kaum eine Bedeutung. Celsus schrieb eine Art Encyklopädie der Künste
und technischen Wissenschaften zum Gebrauche für Landwirthe, wie wir deren
ja auch heute besitzen. Die Bücher über die Medicin enthalten daher wesent¬
lich praktische, weniger rein wissenschaftliche Darstellungen, ja es ist nicht ein¬
mal ganz sicher, daß Celsus selbst die Medicin praktisch ausgeübt habe, was
freilich Alles dem Hoden Werthe des Werkes keinen Eintrag thut.

Viel weniger klar als die Beschreibungen des Aretaeus sind die freilich oft
glänzenden und bestechenden Krankheitsbilder. welche Galen entwirft, indem sie
deutlich den Mangel eigner anatomischer Anschauung bekunden. Bei ihm stand
schon die Neigung zur Spekulation einer derartigen Untersuchungsmethode sehr
im Wege, und die Krasenlehre, welche wieder alle Krankheiten auf ein lediglich
supponirtes Pneuma, oder auf die Lebensgeister, welche man neulichst wie¬
der hat auferwecken wollen, so wie auf die Mischungen der Elemente des Kalten,
Warmen. Trocknen und Feuchten zurückführte, verdrängte die solidarpatholo-
gische Auffassung. Nicht minder verderblich wirkte die oft sehr gewaltsam den
Thatsachen aufgezwängte dunkle und confuse Theorie, die mit den anatomischen
Thatsachen fast außer allem Zusammenhange steht, die aber nichts destowe-
niger auf alle Fragen eine Antwort, für jedes Räthsel eine Lösung bereit hat.
Eben daher kam es, daß man sich so leicht bei dieser bequemen Auffassung be¬
ruhigte und das Galenische System gar bald zur unbeschränkten Herrschaft ge-


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[0426] er weiß schon, daß sich die vom Gehirn ausgehenden Nerven kreuzen, während die aus dem Rückenmarke entspringenden auf derselben Seite verlaufen, und erklärt aus diesem Verhältnisse ganz richtig, wie vom Gehirn ausgehende Lähmungen auf der entgegengesetzten, vom Rückenmarke abhängige auf derselben Seite bemerkbar werden — kurz er gibt so mannigfache Beweise eines ebenso gründlichen, als erfolgreichen Studiums, daß wir erstaunt fragen, wie ist es möglich, daß derartige pathologisch-anatomische Forschungen so lange Jahrhun- derte fruchtlos vergraben blieben; daß so viele richtige Angaben des Aretaeus erst die Neuzeit wieder entdecken mußte. Allerdings ist nun. auch Aretaeus. der einzige classische Schriftsteller, welcher in solcher Art die Anatomie zu verwerthen verstand, und mit ihm erlöschen die Spuren einer wohlthätigen Rückwirkung der Anatomie auf die Praxis fast voll¬ ständig. Nur bei Caelius Aurelianus, welcher im 4. oder 5. Jahrhunderte unse¬ rer Zeitrechnung lebte, der indeß meist nur die Äerke früherer Methodiker, be¬ sonders des Svranus compilirte, finden wir noch die Anatomie in ähnlicher Weise als Basis der Diagnostik wie bei Aretaeus, und bei jeder Krankheit stets ein besonderes Kapitel über den Sitz derselben vorausgeschickt, ohne daß indeß wesentlich neue Entdeckungen auf diesem Gebiete bemerkbar wären. Das Werk des Celsus, dessen wir oben vorübergehend erwähnten, und welches mit Recht als eine Art Codex der alten Medicin gilt, hat für unsern Zweck kaum eine Bedeutung. Celsus schrieb eine Art Encyklopädie der Künste und technischen Wissenschaften zum Gebrauche für Landwirthe, wie wir deren ja auch heute besitzen. Die Bücher über die Medicin enthalten daher wesent¬ lich praktische, weniger rein wissenschaftliche Darstellungen, ja es ist nicht ein¬ mal ganz sicher, daß Celsus selbst die Medicin praktisch ausgeübt habe, was freilich Alles dem Hoden Werthe des Werkes keinen Eintrag thut. Viel weniger klar als die Beschreibungen des Aretaeus sind die freilich oft glänzenden und bestechenden Krankheitsbilder. welche Galen entwirft, indem sie deutlich den Mangel eigner anatomischer Anschauung bekunden. Bei ihm stand schon die Neigung zur Spekulation einer derartigen Untersuchungsmethode sehr im Wege, und die Krasenlehre, welche wieder alle Krankheiten auf ein lediglich supponirtes Pneuma, oder auf die Lebensgeister, welche man neulichst wie¬ der hat auferwecken wollen, so wie auf die Mischungen der Elemente des Kalten, Warmen. Trocknen und Feuchten zurückführte, verdrängte die solidarpatholo- gische Auffassung. Nicht minder verderblich wirkte die oft sehr gewaltsam den Thatsachen aufgezwängte dunkle und confuse Theorie, die mit den anatomischen Thatsachen fast außer allem Zusammenhange steht, die aber nichts destowe- niger auf alle Fragen eine Antwort, für jedes Räthsel eine Lösung bereit hat. Eben daher kam es, daß man sich so leicht bei dieser bequemen Auffassung be¬ ruhigte und das Galenische System gar bald zur unbeschränkten Herrschaft ge-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 21, 1862, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341795_113779/426>, abgerufen am 08.01.2025.