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Die Grenzboten. Jg. 21, 1862, I. Semester. II. Band.

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des von Bithynien. zuerst auf die Medicin übertragen. Asklepiades ging von
dem Grundsatze aus, daß die Materie eben so wie sie ewig und unzerstörbar sei.
an sich nicht erkranken könne; nur aus einer abweichenden Zusammensetzung
der Atome gehe die Krankheit hervor; vorzugsweise durch ein Mißverhältniß
zwischen den strömenden Atomen und ihren Wegen werde sie bedingt; und
namentlich wenn die Atome wegen ihrer Größe, ihrer Gestalt, ihrer Menge
in Stillstand oder schnellere Bewegung geriethen, oder wenn die Wege zu weit
oder zu eng. zu zahlreich oder zu selten werden, sei ein Anlaß zur Er¬
krankung gegeben; die Säfte selbst könnten aber keine näheren, sondern nur
fernere Gelegenheitsursachen der Krankheiten begründen. Indem also Askle¬
piades und mit ihm die Schule der Methodiker in der Synkrise der Atome
die Krankheitsprincipien erblickten, traten sie der dogmatischen Auffassung, die
besonders durch die Platonische Philosophie gestützt wurde und nach einem gei¬
stigen Principe, dem man den Namen des Pneuma beilegte, suchte, entgegen
und begründeten sie zuerst die solidarpathologische Auffassung, welche nothwen¬
diger Weise auf die Erforschung der localen Erkrankungen hinführte. Das Feste
sei das eigentlich Kranke, erst aus den Leiden einzelner Organe entständen die
kranken Säftemischungen. So Mußte man sich, ganz wie dies heutzutage als erstes
Erforderniß einer wissenschaftlichen Auffassung der Medicin gilt, aus die Unter¬
suchung der kranken Organe selbst verlegen, da diese den ersten und greifbarsten
Aufschluß über die so unsicheren und so sehr von der suvjectiven Auffassung
der Kranken abhängigen Symptome geben. Wenn man nicht weiß, was da '
leidet, wenn man die Veränderungen nicht kennt, welche die Krankheit in einem
Organe bewirken kann, so kann man auch die Krankheit nicht richtig behan¬
deln. Die Leichenuntersuchung ist daher für den Arzt die wichtigste Erkenntni߬
quelle, und es ist sehr zu bedauern, daß die Scheu des Publicums vor den
Obductionen mock so vielfach diese zu verwerthen den Aerzten versagt, während
doch das größte Interesse der Leidenden die Fortschritte der Wissenschaft auf
alle Weise zu befördern empfiehlt. Auch in andern Beziehungen trat Asklepia¬
des reformatorisch auf, wie er denn zuerst der Hippokratischen Theorie von den
Krisen und der vermeintlichen Heilkraft der Natur ganz consequent entgegen,
trat; lehrte er doch die ketzerische, aber nichtsdestoweniger richtige Ansicht, daß
die Natur gar nicht selten den Krankheitsverlauf durch Uebermaß der Krisen
störe und dadurch anstatt zu nützen schade.

Aus dem Gesagten wird es leicht begreiflich, wie sine derartige Auffassung
der Medicin nothwendig auch der Anatomie außer der bloßen Kenntniß der Or¬
gane die viel tiefer gehende Aufgabe stellen mußte, die krankhaften Veränderun¬
gen zu untersuchen. Niemand, so läßt Celsus die Asklepiaden lehren, könne
die Krankheiten erkennen, der die inneren Theile nicht selbst kenne. Es sei ba-
se>r nothwendig, todte Körper zu öffnen und zu besehen. Vortrchlich hätten


des von Bithynien. zuerst auf die Medicin übertragen. Asklepiades ging von
dem Grundsatze aus, daß die Materie eben so wie sie ewig und unzerstörbar sei.
an sich nicht erkranken könne; nur aus einer abweichenden Zusammensetzung
der Atome gehe die Krankheit hervor; vorzugsweise durch ein Mißverhältniß
zwischen den strömenden Atomen und ihren Wegen werde sie bedingt; und
namentlich wenn die Atome wegen ihrer Größe, ihrer Gestalt, ihrer Menge
in Stillstand oder schnellere Bewegung geriethen, oder wenn die Wege zu weit
oder zu eng. zu zahlreich oder zu selten werden, sei ein Anlaß zur Er¬
krankung gegeben; die Säfte selbst könnten aber keine näheren, sondern nur
fernere Gelegenheitsursachen der Krankheiten begründen. Indem also Askle¬
piades und mit ihm die Schule der Methodiker in der Synkrise der Atome
die Krankheitsprincipien erblickten, traten sie der dogmatischen Auffassung, die
besonders durch die Platonische Philosophie gestützt wurde und nach einem gei¬
stigen Principe, dem man den Namen des Pneuma beilegte, suchte, entgegen
und begründeten sie zuerst die solidarpathologische Auffassung, welche nothwen¬
diger Weise auf die Erforschung der localen Erkrankungen hinführte. Das Feste
sei das eigentlich Kranke, erst aus den Leiden einzelner Organe entständen die
kranken Säftemischungen. So Mußte man sich, ganz wie dies heutzutage als erstes
Erforderniß einer wissenschaftlichen Auffassung der Medicin gilt, aus die Unter¬
suchung der kranken Organe selbst verlegen, da diese den ersten und greifbarsten
Aufschluß über die so unsicheren und so sehr von der suvjectiven Auffassung
der Kranken abhängigen Symptome geben. Wenn man nicht weiß, was da '
leidet, wenn man die Veränderungen nicht kennt, welche die Krankheit in einem
Organe bewirken kann, so kann man auch die Krankheit nicht richtig behan¬
deln. Die Leichenuntersuchung ist daher für den Arzt die wichtigste Erkenntni߬
quelle, und es ist sehr zu bedauern, daß die Scheu des Publicums vor den
Obductionen mock so vielfach diese zu verwerthen den Aerzten versagt, während
doch das größte Interesse der Leidenden die Fortschritte der Wissenschaft auf
alle Weise zu befördern empfiehlt. Auch in andern Beziehungen trat Asklepia¬
des reformatorisch auf, wie er denn zuerst der Hippokratischen Theorie von den
Krisen und der vermeintlichen Heilkraft der Natur ganz consequent entgegen,
trat; lehrte er doch die ketzerische, aber nichtsdestoweniger richtige Ansicht, daß
die Natur gar nicht selten den Krankheitsverlauf durch Uebermaß der Krisen
störe und dadurch anstatt zu nützen schade.

Aus dem Gesagten wird es leicht begreiflich, wie sine derartige Auffassung
der Medicin nothwendig auch der Anatomie außer der bloßen Kenntniß der Or¬
gane die viel tiefer gehende Aufgabe stellen mußte, die krankhaften Veränderun¬
gen zu untersuchen. Niemand, so läßt Celsus die Asklepiaden lehren, könne
die Krankheiten erkennen, der die inneren Theile nicht selbst kenne. Es sei ba-
se>r nothwendig, todte Körper zu öffnen und zu besehen. Vortrchlich hätten


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[0422] des von Bithynien. zuerst auf die Medicin übertragen. Asklepiades ging von dem Grundsatze aus, daß die Materie eben so wie sie ewig und unzerstörbar sei. an sich nicht erkranken könne; nur aus einer abweichenden Zusammensetzung der Atome gehe die Krankheit hervor; vorzugsweise durch ein Mißverhältniß zwischen den strömenden Atomen und ihren Wegen werde sie bedingt; und namentlich wenn die Atome wegen ihrer Größe, ihrer Gestalt, ihrer Menge in Stillstand oder schnellere Bewegung geriethen, oder wenn die Wege zu weit oder zu eng. zu zahlreich oder zu selten werden, sei ein Anlaß zur Er¬ krankung gegeben; die Säfte selbst könnten aber keine näheren, sondern nur fernere Gelegenheitsursachen der Krankheiten begründen. Indem also Askle¬ piades und mit ihm die Schule der Methodiker in der Synkrise der Atome die Krankheitsprincipien erblickten, traten sie der dogmatischen Auffassung, die besonders durch die Platonische Philosophie gestützt wurde und nach einem gei¬ stigen Principe, dem man den Namen des Pneuma beilegte, suchte, entgegen und begründeten sie zuerst die solidarpathologische Auffassung, welche nothwen¬ diger Weise auf die Erforschung der localen Erkrankungen hinführte. Das Feste sei das eigentlich Kranke, erst aus den Leiden einzelner Organe entständen die kranken Säftemischungen. So Mußte man sich, ganz wie dies heutzutage als erstes Erforderniß einer wissenschaftlichen Auffassung der Medicin gilt, aus die Unter¬ suchung der kranken Organe selbst verlegen, da diese den ersten und greifbarsten Aufschluß über die so unsicheren und so sehr von der suvjectiven Auffassung der Kranken abhängigen Symptome geben. Wenn man nicht weiß, was da ' leidet, wenn man die Veränderungen nicht kennt, welche die Krankheit in einem Organe bewirken kann, so kann man auch die Krankheit nicht richtig behan¬ deln. Die Leichenuntersuchung ist daher für den Arzt die wichtigste Erkenntni߬ quelle, und es ist sehr zu bedauern, daß die Scheu des Publicums vor den Obductionen mock so vielfach diese zu verwerthen den Aerzten versagt, während doch das größte Interesse der Leidenden die Fortschritte der Wissenschaft auf alle Weise zu befördern empfiehlt. Auch in andern Beziehungen trat Asklepia¬ des reformatorisch auf, wie er denn zuerst der Hippokratischen Theorie von den Krisen und der vermeintlichen Heilkraft der Natur ganz consequent entgegen, trat; lehrte er doch die ketzerische, aber nichtsdestoweniger richtige Ansicht, daß die Natur gar nicht selten den Krankheitsverlauf durch Uebermaß der Krisen störe und dadurch anstatt zu nützen schade. Aus dem Gesagten wird es leicht begreiflich, wie sine derartige Auffassung der Medicin nothwendig auch der Anatomie außer der bloßen Kenntniß der Or¬ gane die viel tiefer gehende Aufgabe stellen mußte, die krankhaften Veränderun¬ gen zu untersuchen. Niemand, so läßt Celsus die Asklepiaden lehren, könne die Krankheiten erkennen, der die inneren Theile nicht selbst kenne. Es sei ba- se>r nothwendig, todte Körper zu öffnen und zu besehen. Vortrchlich hätten

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 21, 1862, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341795_113779/422>, abgerufen am 08.01.2025.