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Die Grenzboten. Jg. 21, 1862, I. Semester. II. Band.

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Vatican befindet sich die Nachbildung eines kunstgemäß geöffneten Brustkastens,
in welchem man die zwei Flügel der linken, die drei der rechten Lunge erblickt;
zwischen ihnen sieht man das Herz, darunter das Zwerchfell und die mehr¬
lappige Leber: eine Darstellung, die nur nach einem menschlichen Präparate
angefertigt sein kann, und aus welcher sich schließen läßt, daß die Alten die
Eröffnung der Brusthöhle gerade so vornahmen, wie wir. Diese und ähnliche
Mcmnorbilder und Terracotten, welche zum Theil sehr gut nachgebildete Körper-
theile vorstellen, wurden, wie noch heutzutage an vielen Wallfahrtsorten, z. B.
in Kevelaer, freilich mit schlechten Wachsbildern, geschieht -- als Votivbilder in
den Tempeln aufgestellt.

Daß die Hippokratiker nicht blos an Thieren die Anatomie erlernten, son¬
dern wie auch Aristoteles menschliche Leichen zergliederten, ist aus zahlreichen
Schriften zu erweisen, wiewohl keine der letztern ausschließlich der Anatomie
gewidmet war, sonder" die Beschreibung der Organe gelegentlich in den übrigen
Inhalt verwebt wird. Obwohl schon bei Hippokrates die Ansicht ausgesprochen
ist. daß die Anatomie ihren wahren Werth erst durch die Beobachtung der Ab¬
weichungen in der Gestalt und der Lage der Organe erhalte, so hatte dieselbe
doch nur geringen Einfluß, da die Hippotratische Medicin zunächst und vor
Allem eine Kunstübung war. für welche die Beobachtung der Krankheiten und
die Erkenntniß der Heilanzcigen den Mittelpunkt der ärztlichen Thätigkeit bil¬
dete. Zudem aber war jene humoralpathologische Doctrin. welche die Krank¬
heiten von abnormen Säften ableitete, ein wesentliches Hinderniß der Erforschung
der localen Erkrankungen. Wie überall vergaß die Humoralpathologie, daß
kranke Säfte nothwendiger Weife nur aus kranken Organen entstehen können; trotz
ihrer Unrichtigkeit hat sich freilich tue Hippokrattsche Auffassung bis auf unsre
Tage erhallen und spielt namentlich bei den unvollkommnen Theorien, welche
sich die Laien über die Entstehung der Krankheiten zu bilden lreben, eine große
Rolle. Die Verdienste der Hippokratischen Medicin liegen übrigens auch weit
weniger in ihren Theorien, als in der Diagnostik und Therapie.

Eine umfangreichere Anwendung der Anatomie auf die Praxis finden wir
bei der alexandrinischen Schule. Wenn auch unzweifelhaft feststeht, daß Hippo¬
krates und seine Schüler mitunter auch menschliche Leichen zergliederten, so
waren doch ihre anatomischen Kenntnisse immerhin sehr unvollkommen. Am
besten kannten sie begreiflicher Weise den Knochenbau, weniger richtige An¬
schauungen hatten sie vom Gefäßsystem, wobei ihnen namentlich die im ganzen
Alterthume sehr verbreitete unrichtige Deutung der Schlagadern, die man.
weil dieselben in der Leiche gewöhnlich blutleer gefunden werden, für luftfüh¬
rende Kanäle stielt, im Wege stand, und ebenso von dem Nervensystem. Wie
dies noch heute von den Laien vielfach geschieht, verwechselte man die Nerven,
die Leiter der Empfindung und Bewegung, ihres glänzenden weißen Ansehens


Vatican befindet sich die Nachbildung eines kunstgemäß geöffneten Brustkastens,
in welchem man die zwei Flügel der linken, die drei der rechten Lunge erblickt;
zwischen ihnen sieht man das Herz, darunter das Zwerchfell und die mehr¬
lappige Leber: eine Darstellung, die nur nach einem menschlichen Präparate
angefertigt sein kann, und aus welcher sich schließen läßt, daß die Alten die
Eröffnung der Brusthöhle gerade so vornahmen, wie wir. Diese und ähnliche
Mcmnorbilder und Terracotten, welche zum Theil sehr gut nachgebildete Körper-
theile vorstellen, wurden, wie noch heutzutage an vielen Wallfahrtsorten, z. B.
in Kevelaer, freilich mit schlechten Wachsbildern, geschieht — als Votivbilder in
den Tempeln aufgestellt.

Daß die Hippokratiker nicht blos an Thieren die Anatomie erlernten, son¬
dern wie auch Aristoteles menschliche Leichen zergliederten, ist aus zahlreichen
Schriften zu erweisen, wiewohl keine der letztern ausschließlich der Anatomie
gewidmet war, sonder» die Beschreibung der Organe gelegentlich in den übrigen
Inhalt verwebt wird. Obwohl schon bei Hippokrates die Ansicht ausgesprochen
ist. daß die Anatomie ihren wahren Werth erst durch die Beobachtung der Ab¬
weichungen in der Gestalt und der Lage der Organe erhalte, so hatte dieselbe
doch nur geringen Einfluß, da die Hippotratische Medicin zunächst und vor
Allem eine Kunstübung war. für welche die Beobachtung der Krankheiten und
die Erkenntniß der Heilanzcigen den Mittelpunkt der ärztlichen Thätigkeit bil¬
dete. Zudem aber war jene humoralpathologische Doctrin. welche die Krank¬
heiten von abnormen Säften ableitete, ein wesentliches Hinderniß der Erforschung
der localen Erkrankungen. Wie überall vergaß die Humoralpathologie, daß
kranke Säfte nothwendiger Weife nur aus kranken Organen entstehen können; trotz
ihrer Unrichtigkeit hat sich freilich tue Hippokrattsche Auffassung bis auf unsre
Tage erhallen und spielt namentlich bei den unvollkommnen Theorien, welche
sich die Laien über die Entstehung der Krankheiten zu bilden lreben, eine große
Rolle. Die Verdienste der Hippokratischen Medicin liegen übrigens auch weit
weniger in ihren Theorien, als in der Diagnostik und Therapie.

Eine umfangreichere Anwendung der Anatomie auf die Praxis finden wir
bei der alexandrinischen Schule. Wenn auch unzweifelhaft feststeht, daß Hippo¬
krates und seine Schüler mitunter auch menschliche Leichen zergliederten, so
waren doch ihre anatomischen Kenntnisse immerhin sehr unvollkommen. Am
besten kannten sie begreiflicher Weise den Knochenbau, weniger richtige An¬
schauungen hatten sie vom Gefäßsystem, wobei ihnen namentlich die im ganzen
Alterthume sehr verbreitete unrichtige Deutung der Schlagadern, die man.
weil dieselben in der Leiche gewöhnlich blutleer gefunden werden, für luftfüh¬
rende Kanäle stielt, im Wege stand, und ebenso von dem Nervensystem. Wie
dies noch heute von den Laien vielfach geschieht, verwechselte man die Nerven,
die Leiter der Empfindung und Bewegung, ihres glänzenden weißen Ansehens


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[0420] Vatican befindet sich die Nachbildung eines kunstgemäß geöffneten Brustkastens, in welchem man die zwei Flügel der linken, die drei der rechten Lunge erblickt; zwischen ihnen sieht man das Herz, darunter das Zwerchfell und die mehr¬ lappige Leber: eine Darstellung, die nur nach einem menschlichen Präparate angefertigt sein kann, und aus welcher sich schließen läßt, daß die Alten die Eröffnung der Brusthöhle gerade so vornahmen, wie wir. Diese und ähnliche Mcmnorbilder und Terracotten, welche zum Theil sehr gut nachgebildete Körper- theile vorstellen, wurden, wie noch heutzutage an vielen Wallfahrtsorten, z. B. in Kevelaer, freilich mit schlechten Wachsbildern, geschieht — als Votivbilder in den Tempeln aufgestellt. Daß die Hippokratiker nicht blos an Thieren die Anatomie erlernten, son¬ dern wie auch Aristoteles menschliche Leichen zergliederten, ist aus zahlreichen Schriften zu erweisen, wiewohl keine der letztern ausschließlich der Anatomie gewidmet war, sonder» die Beschreibung der Organe gelegentlich in den übrigen Inhalt verwebt wird. Obwohl schon bei Hippokrates die Ansicht ausgesprochen ist. daß die Anatomie ihren wahren Werth erst durch die Beobachtung der Ab¬ weichungen in der Gestalt und der Lage der Organe erhalte, so hatte dieselbe doch nur geringen Einfluß, da die Hippotratische Medicin zunächst und vor Allem eine Kunstübung war. für welche die Beobachtung der Krankheiten und die Erkenntniß der Heilanzcigen den Mittelpunkt der ärztlichen Thätigkeit bil¬ dete. Zudem aber war jene humoralpathologische Doctrin. welche die Krank¬ heiten von abnormen Säften ableitete, ein wesentliches Hinderniß der Erforschung der localen Erkrankungen. Wie überall vergaß die Humoralpathologie, daß kranke Säfte nothwendiger Weife nur aus kranken Organen entstehen können; trotz ihrer Unrichtigkeit hat sich freilich tue Hippokrattsche Auffassung bis auf unsre Tage erhallen und spielt namentlich bei den unvollkommnen Theorien, welche sich die Laien über die Entstehung der Krankheiten zu bilden lreben, eine große Rolle. Die Verdienste der Hippokratischen Medicin liegen übrigens auch weit weniger in ihren Theorien, als in der Diagnostik und Therapie. Eine umfangreichere Anwendung der Anatomie auf die Praxis finden wir bei der alexandrinischen Schule. Wenn auch unzweifelhaft feststeht, daß Hippo¬ krates und seine Schüler mitunter auch menschliche Leichen zergliederten, so waren doch ihre anatomischen Kenntnisse immerhin sehr unvollkommen. Am besten kannten sie begreiflicher Weise den Knochenbau, weniger richtige An¬ schauungen hatten sie vom Gefäßsystem, wobei ihnen namentlich die im ganzen Alterthume sehr verbreitete unrichtige Deutung der Schlagadern, die man. weil dieselben in der Leiche gewöhnlich blutleer gefunden werden, für luftfüh¬ rende Kanäle stielt, im Wege stand, und ebenso von dem Nervensystem. Wie dies noch heute von den Laien vielfach geschieht, verwechselte man die Nerven, die Leiter der Empfindung und Bewegung, ihres glänzenden weißen Ansehens

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 21, 1862, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341795_113779/420>, abgerufen am 08.01.2025.