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Die Grenzboten. Jg. 21, 1862, I. Semester. II. Band.

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man nicht, und bei dem Mangel aller eignen Untersuchungen konnte man
natürlich auch über das ,Wesen der Krankheiten keine Aufschlüsse gewinnen.
So ward die Anatomie des Galen gar bald wie ein unerschütterliches Dogma
behandelt, der Irrthum ward geheiligt, jeder Einspruch galt als Frevel, Und
die eigne Untersuchung wurde so unselbständig, daß man etwaige Abweichungen
von den Lehren Galens lieber als Selbsttäuschungen ansah, als sich durch sie
zu weiterer Forschung anleiten ließ.

Dennoch hatte bereits im Alterthume die Anatomie eine sechr fruchtbrin¬
gende Richtung eingeschlagen. Neben der blos beschreibenden Anatomie, welche
den normalen Bau des Körpers betrachtet, hatten schon die Griechen, ,und
zwar in viel weiterem Umfange als man gewöhnlich glaubt, die pathologische
Anatomie betrieben und ausgenutzt. Man hatte gar bald Veränderungen in
den Organen kennen gelernt, welche wichtige Aufschlüsse über die Krankheiten
gaben und mit ihnen schon vielfach eine überraschend klare Einsicht gewonnen.

Daß bei den alten Völkern überhaupt die Scheu vor Allem, was mit dem
Tode zusammenhing, den anatomischen Untersuchungen hemmend entgegentrat,
ist bekannt genug. Vielen galt die Beschäftigung mit der Leiche für unrein,
und bei den Juden wie bei den Aegyptern heiligten eigene Gesetze diese Auf¬
fassung. Man sollte meinen, daß bei den Aegyptern die Einbalsamirung der
Leichen den anatomischen Studien günstig gewesen wäre, nichtsdestoweniger
waren ihre Kenntnisse vom inneren Baue des Menschen ebenso roh, wie die
der übrigen Völker, welche gewöhnlich aus dem Baue geschlachteter Thiere auf
den menschlichen zurückschlossen. Nur bei jenem wunderbar begabten Volke,
welches aus allen Gebieten des Wissens stets allen andern voranleuchten wird,
bei welchem das Bedürfniß nach klarer Anschauung ebensosehr überrascht wie
die Schärfe des Gedankens und die männliche Intensität der Empfindung,
überwand der Drang nach , wahrer Wissenschaft frühzeitig die Scheu vor der
Leiche, eine Scheu, die, zunächst durch den Anblick der entseelten Hülle erregt,
zwar nicht angeboren, aber um so leichter atterzogen und genährt wird durch
die Widerwärtigkeit der Verwesung. Der Irrthum, welchen zuerst Welcker, der
gewiß wie kein Andrer mit feiner Anempsindung in den Geist des classischen
Griechenthums eindrang, aussprach, es sei ganz Unmöglich, daß Aristoteles
menschliche Leichen untersucht habe, weil dies unvereinbar sei Mit der gesamm-
tM innern und äußern Religion, mit der Gefühlsweise und den Sitten des
griechischen Alterthums -- ist jetzt hinreichend widerlegt. Schon vor Aristote¬
les muß Man menschliche Leichen anatomisch untersucht haben, und wenn die Ana¬
tomie zu Alexandrien in einer sehr ausgedehnten Weise geübt wurde, so muß
sie noch zuo römischen Kaiserzeit eine gewisse Popularität gehab? haben. Be¬
sitzen wir doch aus der letztere" in Marmor nachgebildete anatomische Präpa¬
rate, nicht blos von SketetHeiten, sondern selbst von inneren Organen. Im


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man nicht, und bei dem Mangel aller eignen Untersuchungen konnte man
natürlich auch über das ,Wesen der Krankheiten keine Aufschlüsse gewinnen.
So ward die Anatomie des Galen gar bald wie ein unerschütterliches Dogma
behandelt, der Irrthum ward geheiligt, jeder Einspruch galt als Frevel, Und
die eigne Untersuchung wurde so unselbständig, daß man etwaige Abweichungen
von den Lehren Galens lieber als Selbsttäuschungen ansah, als sich durch sie
zu weiterer Forschung anleiten ließ.

Dennoch hatte bereits im Alterthume die Anatomie eine sechr fruchtbrin¬
gende Richtung eingeschlagen. Neben der blos beschreibenden Anatomie, welche
den normalen Bau des Körpers betrachtet, hatten schon die Griechen, ,und
zwar in viel weiterem Umfange als man gewöhnlich glaubt, die pathologische
Anatomie betrieben und ausgenutzt. Man hatte gar bald Veränderungen in
den Organen kennen gelernt, welche wichtige Aufschlüsse über die Krankheiten
gaben und mit ihnen schon vielfach eine überraschend klare Einsicht gewonnen.

Daß bei den alten Völkern überhaupt die Scheu vor Allem, was mit dem
Tode zusammenhing, den anatomischen Untersuchungen hemmend entgegentrat,
ist bekannt genug. Vielen galt die Beschäftigung mit der Leiche für unrein,
und bei den Juden wie bei den Aegyptern heiligten eigene Gesetze diese Auf¬
fassung. Man sollte meinen, daß bei den Aegyptern die Einbalsamirung der
Leichen den anatomischen Studien günstig gewesen wäre, nichtsdestoweniger
waren ihre Kenntnisse vom inneren Baue des Menschen ebenso roh, wie die
der übrigen Völker, welche gewöhnlich aus dem Baue geschlachteter Thiere auf
den menschlichen zurückschlossen. Nur bei jenem wunderbar begabten Volke,
welches aus allen Gebieten des Wissens stets allen andern voranleuchten wird,
bei welchem das Bedürfniß nach klarer Anschauung ebensosehr überrascht wie
die Schärfe des Gedankens und die männliche Intensität der Empfindung,
überwand der Drang nach , wahrer Wissenschaft frühzeitig die Scheu vor der
Leiche, eine Scheu, die, zunächst durch den Anblick der entseelten Hülle erregt,
zwar nicht angeboren, aber um so leichter atterzogen und genährt wird durch
die Widerwärtigkeit der Verwesung. Der Irrthum, welchen zuerst Welcker, der
gewiß wie kein Andrer mit feiner Anempsindung in den Geist des classischen
Griechenthums eindrang, aussprach, es sei ganz Unmöglich, daß Aristoteles
menschliche Leichen untersucht habe, weil dies unvereinbar sei Mit der gesamm-
tM innern und äußern Religion, mit der Gefühlsweise und den Sitten des
griechischen Alterthums — ist jetzt hinreichend widerlegt. Schon vor Aristote¬
les muß Man menschliche Leichen anatomisch untersucht haben, und wenn die Ana¬
tomie zu Alexandrien in einer sehr ausgedehnten Weise geübt wurde, so muß
sie noch zuo römischen Kaiserzeit eine gewisse Popularität gehab? haben. Be¬
sitzen wir doch aus der letztere« in Marmor nachgebildete anatomische Präpa¬
rate, nicht blos von SketetHeiten, sondern selbst von inneren Organen. Im


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[0419] man nicht, und bei dem Mangel aller eignen Untersuchungen konnte man natürlich auch über das ,Wesen der Krankheiten keine Aufschlüsse gewinnen. So ward die Anatomie des Galen gar bald wie ein unerschütterliches Dogma behandelt, der Irrthum ward geheiligt, jeder Einspruch galt als Frevel, Und die eigne Untersuchung wurde so unselbständig, daß man etwaige Abweichungen von den Lehren Galens lieber als Selbsttäuschungen ansah, als sich durch sie zu weiterer Forschung anleiten ließ. Dennoch hatte bereits im Alterthume die Anatomie eine sechr fruchtbrin¬ gende Richtung eingeschlagen. Neben der blos beschreibenden Anatomie, welche den normalen Bau des Körpers betrachtet, hatten schon die Griechen, ,und zwar in viel weiterem Umfange als man gewöhnlich glaubt, die pathologische Anatomie betrieben und ausgenutzt. Man hatte gar bald Veränderungen in den Organen kennen gelernt, welche wichtige Aufschlüsse über die Krankheiten gaben und mit ihnen schon vielfach eine überraschend klare Einsicht gewonnen. Daß bei den alten Völkern überhaupt die Scheu vor Allem, was mit dem Tode zusammenhing, den anatomischen Untersuchungen hemmend entgegentrat, ist bekannt genug. Vielen galt die Beschäftigung mit der Leiche für unrein, und bei den Juden wie bei den Aegyptern heiligten eigene Gesetze diese Auf¬ fassung. Man sollte meinen, daß bei den Aegyptern die Einbalsamirung der Leichen den anatomischen Studien günstig gewesen wäre, nichtsdestoweniger waren ihre Kenntnisse vom inneren Baue des Menschen ebenso roh, wie die der übrigen Völker, welche gewöhnlich aus dem Baue geschlachteter Thiere auf den menschlichen zurückschlossen. Nur bei jenem wunderbar begabten Volke, welches aus allen Gebieten des Wissens stets allen andern voranleuchten wird, bei welchem das Bedürfniß nach klarer Anschauung ebensosehr überrascht wie die Schärfe des Gedankens und die männliche Intensität der Empfindung, überwand der Drang nach , wahrer Wissenschaft frühzeitig die Scheu vor der Leiche, eine Scheu, die, zunächst durch den Anblick der entseelten Hülle erregt, zwar nicht angeboren, aber um so leichter atterzogen und genährt wird durch die Widerwärtigkeit der Verwesung. Der Irrthum, welchen zuerst Welcker, der gewiß wie kein Andrer mit feiner Anempsindung in den Geist des classischen Griechenthums eindrang, aussprach, es sei ganz Unmöglich, daß Aristoteles menschliche Leichen untersucht habe, weil dies unvereinbar sei Mit der gesamm- tM innern und äußern Religion, mit der Gefühlsweise und den Sitten des griechischen Alterthums — ist jetzt hinreichend widerlegt. Schon vor Aristote¬ les muß Man menschliche Leichen anatomisch untersucht haben, und wenn die Ana¬ tomie zu Alexandrien in einer sehr ausgedehnten Weise geübt wurde, so muß sie noch zuo römischen Kaiserzeit eine gewisse Popularität gehab? haben. Be¬ sitzen wir doch aus der letztere« in Marmor nachgebildete anatomische Präpa¬ rate, nicht blos von SketetHeiten, sondern selbst von inneren Organen. Im 52 *

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 21, 1862, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341795_113779/419>, abgerufen am 08.01.2025.