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Die Grenzboten. Jg. 21, 1862, I. Semester. II. Band.

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erkennen, jenes geheimnißvolle allmälige Wachsen der geschichtlichen Dinge zu
verstehen, das die moderne Wissenschaft mit dem viel mißbrauchten Worte "or¬
ganische Entwicklung" bezeichnet. Wie sollte Er dies Alles erkennen? Er, des¬
sen Bildung in die Tiefe mehr als in die Breite ging, der die Mensch¬
heit zur Pflanze herabgewürdigt sah, wenn man redete von dem langsamen
natürlichen Reifen des Staates? Er hat es auch nicht erkannt; nicht einen
Schritt weit kam sein Idealismus der Wirklichkeit entgegen, aber er lebte in
Zeiten, da allein der Idealismus uns retten konnte, in einem Volke, das,
gleich ihm selber, von den Ideen der Humanität erst herabstieg zur Arbeit des
Bürgerthums, in einer Zeit, die Nichts dringender bedürfte als jenen "starken
und gewissen Geist", den Er ihr zu erwecken dachte. Mit der Schlacht von Jena
schien unsre letzte Hoffnung gebrochen; "der Kampf -- so schildert Fichte das
Unheil und den Weg des Heils -- "der Kampf mit den Waffen ist beschlossen;
es erhebt sich, so wir es wollen, der neue Kampf der Grundsätze, der Sitten,
des Charakters." Wohl mögen wir erstaunen, wie klar der Sinn des nahen¬
den Kampfes in diesen Tagen der Ermannung von Allen verstanden ward, wie
diese Worte Fichte's überall ein Echo fanden. Die Regierung selber erkannte
es, daß allein ein Volkskrieg retten könne, allein die Entfesselung 'aller Kräfte
der Nation, der sittlichen Mächte mehr noch als der physischen. So, gerade so,
auf dieser steilen Spitze mußten die Geschicke unsres Volkes stehen, einen Krieg
mußte es gelten um alle höchsten Güter des Lebens, eine Zeit mußte kommen
von jenen, die wir die großen Epochen der Geschichte nennen, da alle schlum¬
mernden Gegensätze des Völkerlebens zum offenen Durchbruch gelangen, die
Stunde mußte schlagen für eine Staatskunst der Ideen, wenn grade dieser
Denker unmittelbar eingreifen sollte in das staatliche Leben.

Nicht leicht ward es ihm seine Stelle zu finden unter den Männern, die
dieser Staatskunst der Ideen dienten. Denn was den Nachlebenden als das
einfache Werk einer allgemeinen fraglosen Volksstimmung erscheint, das ist in
Wahrheit erwachsen aus harten Kämpfen starker eigenwilliger Köpfe. Wie
fremd stehen sie doch nebeneinander: unter den Staatsmänner Stein, der
Gläubige, der schroffe Aristokrat, und Hardenberg, der Jünger französischer
Aufklärung, und Schön, der geniale Kantianer; unter den Soldaten die
denkenden Militärs, die Scharnhorst und Clausewitz, denen die Kriegskunst
als ein Theil der Staatswissenschaft erschien, und Blücher, dem der Schreib¬
tisch Gift war, der Eines nur verstand -- den Feind zu schlagen, und York,
der Mann der alten militärischen Schule, der Eiferer wider das Nattergezücht
der Reformer; unter den Denkern und Künstlern neben Fichte Schleier¬
macher, dessen Milde Jener als leichtsinnig und unsittlich verwirft, und
Heinrich v. Kleist, der als ein Dichter mit unmittelbarer Leidenschaft em¬
pfindet was Fichte als Denker bekennt. Ihm zitterte die Feder in der Hand,


erkennen, jenes geheimnißvolle allmälige Wachsen der geschichtlichen Dinge zu
verstehen, das die moderne Wissenschaft mit dem viel mißbrauchten Worte „or¬
ganische Entwicklung" bezeichnet. Wie sollte Er dies Alles erkennen? Er, des¬
sen Bildung in die Tiefe mehr als in die Breite ging, der die Mensch¬
heit zur Pflanze herabgewürdigt sah, wenn man redete von dem langsamen
natürlichen Reifen des Staates? Er hat es auch nicht erkannt; nicht einen
Schritt weit kam sein Idealismus der Wirklichkeit entgegen, aber er lebte in
Zeiten, da allein der Idealismus uns retten konnte, in einem Volke, das,
gleich ihm selber, von den Ideen der Humanität erst herabstieg zur Arbeit des
Bürgerthums, in einer Zeit, die Nichts dringender bedürfte als jenen „starken
und gewissen Geist", den Er ihr zu erwecken dachte. Mit der Schlacht von Jena
schien unsre letzte Hoffnung gebrochen; „der Kampf — so schildert Fichte das
Unheil und den Weg des Heils — „der Kampf mit den Waffen ist beschlossen;
es erhebt sich, so wir es wollen, der neue Kampf der Grundsätze, der Sitten,
des Charakters." Wohl mögen wir erstaunen, wie klar der Sinn des nahen¬
den Kampfes in diesen Tagen der Ermannung von Allen verstanden ward, wie
diese Worte Fichte's überall ein Echo fanden. Die Regierung selber erkannte
es, daß allein ein Volkskrieg retten könne, allein die Entfesselung 'aller Kräfte
der Nation, der sittlichen Mächte mehr noch als der physischen. So, gerade so,
auf dieser steilen Spitze mußten die Geschicke unsres Volkes stehen, einen Krieg
mußte es gelten um alle höchsten Güter des Lebens, eine Zeit mußte kommen
von jenen, die wir die großen Epochen der Geschichte nennen, da alle schlum¬
mernden Gegensätze des Völkerlebens zum offenen Durchbruch gelangen, die
Stunde mußte schlagen für eine Staatskunst der Ideen, wenn grade dieser
Denker unmittelbar eingreifen sollte in das staatliche Leben.

Nicht leicht ward es ihm seine Stelle zu finden unter den Männern, die
dieser Staatskunst der Ideen dienten. Denn was den Nachlebenden als das
einfache Werk einer allgemeinen fraglosen Volksstimmung erscheint, das ist in
Wahrheit erwachsen aus harten Kämpfen starker eigenwilliger Köpfe. Wie
fremd stehen sie doch nebeneinander: unter den Staatsmänner Stein, der
Gläubige, der schroffe Aristokrat, und Hardenberg, der Jünger französischer
Aufklärung, und Schön, der geniale Kantianer; unter den Soldaten die
denkenden Militärs, die Scharnhorst und Clausewitz, denen die Kriegskunst
als ein Theil der Staatswissenschaft erschien, und Blücher, dem der Schreib¬
tisch Gift war, der Eines nur verstand — den Feind zu schlagen, und York,
der Mann der alten militärischen Schule, der Eiferer wider das Nattergezücht
der Reformer; unter den Denkern und Künstlern neben Fichte Schleier¬
macher, dessen Milde Jener als leichtsinnig und unsittlich verwirft, und
Heinrich v. Kleist, der als ein Dichter mit unmittelbarer Leidenschaft em¬
pfindet was Fichte als Denker bekennt. Ihm zitterte die Feder in der Hand,


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 21, 1862, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341795_113779/388>, abgerufen am 08.01.2025.