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Die Grenzboten. Jg. 21, 1862, I. Semester. II. Band.

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öffentlich besprochen werden. Die "Times" erfreut sich ihres gegenwärtigen
ungeheuren Einflusses nicht blos, weil sie täglich von fünfzig bis sechzigtau-
send Personen gekauft und von zwei bis dreimalhunderttausend andern gelesen
wird, sondern auch weil ihre Leser in ihrer Unterhaltung die Ansichten und
Argumente reproduciren, die sie in ihren Artikeln ausgesprochen gesehen haben.
Ohne daß sie es merken, werden sie Agenten für Verbreitung ihres Namens
und Fortpflanzung ihrer Ideen, und so erfahren Hunderttausende an sich die
Einwirkung der "Times", ohne sie jemals zu sehen. Man kann in Zweifel
sein, ob Herrn Herzens Einfluß in Rußland sich nicht vermehren würde, falls
er (die Einwilligung der kaiserlichen Regierung vorausgesetzt) für eine der ein¬
heimischen Wochenschriften schreiben und sich der Censur unterwerfen wollte,
wie man sich andern Unbequemlichkeiten unterwirft, wenn es einem diese über¬
wiegenden Vortheil gilt. Gegenwärtig hat Herr Herzen die Freiheit zu schrei¬
ben, was ihm beliebt, aber nicht das Recht, sich nach Belieben an Jeden zu
wenden. Jedes Heft des "Russischen Boten" kostet viermal so viel als eine
Nummer der "Glocke" (die monatlich zweimal erscheint und von der das Heft
sechs Pence kostet) und enthält etwa vierzigmal so viel Lesestoff, und alles das in
einem Lande, wo das Papie.r zweimal soviel als in England kostet und der
Setzerlohn, schon früher sehr hoch, sich seit der Thronbesteigung des jetzigen
Kaisers verdoppelt hat. Der Absatz dieser einheimischen Wochen- und Mvnats-
blätter muß also, mit dem der "Glocke" verglichen, sehr beträchtlich sein, und
es fragt sich, ob, wie Heine es für klüger hielt, nur einen Theil dessen, was
er dachte, in den Spalten der "Allgemeinen Zeitung" zu sagen, als genöthigt
zu sein, Alles in der beschränkten Sphäre eines Bierhauses vorzutragen, es
nicht auch vortheilhafter für die von Herrn Herzen gehegten Meinungen sein
würde, in einem anerkannten und weitverbreiteten Organ mit Mäßigung aus¬
gesprochen als unverkürzt und mit Uebertreibung in einem Journal vertreten
zu werden, welches eine sehr beschränkte Anzahl von Lesern hat und schwer zu
erlangen sein muß. Herr Herzen würde sein System grober persönlicher An¬
griffe aufgeben müssen, die selten etwas Gutes zur Folge haben und welche
minder gewichtig wirken, weil sie von einem Schriftsteller ausgehen, der im
Ausland lebend für seine Worte ebenso wenig zur Rechenschaft gezogen werden
kann, als der unverantwortliche Minister des Despotismus für seine Thaten.

Unter der Negierung des Kaisers Nicolaus that Herzen, da man ihm nicht
erlaubte, in Rußland zr< Worte zu kommen, recht daran, wenn er seine Schriften
im Ausland drucken ließ. Er war 1832 der Meinung, daß bald "der einzige
freie Fleck in Europa das Deck eines nach Amerika bestimmten Schiffes sein"
würde, trotz welcher Meinung er als eine Sache, die sich von selbst versteht,
in diesem unsern in Sklavenkettcn liegenden England alles Mögliche, was ihm
einfiel, veröffentlichte mit Einschluß von Büchern, die in Frankreich und Deutsch-


öffentlich besprochen werden. Die „Times" erfreut sich ihres gegenwärtigen
ungeheuren Einflusses nicht blos, weil sie täglich von fünfzig bis sechzigtau-
send Personen gekauft und von zwei bis dreimalhunderttausend andern gelesen
wird, sondern auch weil ihre Leser in ihrer Unterhaltung die Ansichten und
Argumente reproduciren, die sie in ihren Artikeln ausgesprochen gesehen haben.
Ohne daß sie es merken, werden sie Agenten für Verbreitung ihres Namens
und Fortpflanzung ihrer Ideen, und so erfahren Hunderttausende an sich die
Einwirkung der „Times", ohne sie jemals zu sehen. Man kann in Zweifel
sein, ob Herrn Herzens Einfluß in Rußland sich nicht vermehren würde, falls
er (die Einwilligung der kaiserlichen Regierung vorausgesetzt) für eine der ein¬
heimischen Wochenschriften schreiben und sich der Censur unterwerfen wollte,
wie man sich andern Unbequemlichkeiten unterwirft, wenn es einem diese über¬
wiegenden Vortheil gilt. Gegenwärtig hat Herr Herzen die Freiheit zu schrei¬
ben, was ihm beliebt, aber nicht das Recht, sich nach Belieben an Jeden zu
wenden. Jedes Heft des „Russischen Boten" kostet viermal so viel als eine
Nummer der „Glocke" (die monatlich zweimal erscheint und von der das Heft
sechs Pence kostet) und enthält etwa vierzigmal so viel Lesestoff, und alles das in
einem Lande, wo das Papie.r zweimal soviel als in England kostet und der
Setzerlohn, schon früher sehr hoch, sich seit der Thronbesteigung des jetzigen
Kaisers verdoppelt hat. Der Absatz dieser einheimischen Wochen- und Mvnats-
blätter muß also, mit dem der „Glocke" verglichen, sehr beträchtlich sein, und
es fragt sich, ob, wie Heine es für klüger hielt, nur einen Theil dessen, was
er dachte, in den Spalten der „Allgemeinen Zeitung" zu sagen, als genöthigt
zu sein, Alles in der beschränkten Sphäre eines Bierhauses vorzutragen, es
nicht auch vortheilhafter für die von Herrn Herzen gehegten Meinungen sein
würde, in einem anerkannten und weitverbreiteten Organ mit Mäßigung aus¬
gesprochen als unverkürzt und mit Uebertreibung in einem Journal vertreten
zu werden, welches eine sehr beschränkte Anzahl von Lesern hat und schwer zu
erlangen sein muß. Herr Herzen würde sein System grober persönlicher An¬
griffe aufgeben müssen, die selten etwas Gutes zur Folge haben und welche
minder gewichtig wirken, weil sie von einem Schriftsteller ausgehen, der im
Ausland lebend für seine Worte ebenso wenig zur Rechenschaft gezogen werden
kann, als der unverantwortliche Minister des Despotismus für seine Thaten.

Unter der Negierung des Kaisers Nicolaus that Herzen, da man ihm nicht
erlaubte, in Rußland zr< Worte zu kommen, recht daran, wenn er seine Schriften
im Ausland drucken ließ. Er war 1832 der Meinung, daß bald „der einzige
freie Fleck in Europa das Deck eines nach Amerika bestimmten Schiffes sein"
würde, trotz welcher Meinung er als eine Sache, die sich von selbst versteht,
in diesem unsern in Sklavenkettcn liegenden England alles Mögliche, was ihm
einfiel, veröffentlichte mit Einschluß von Büchern, die in Frankreich und Deutsch-


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[0356] öffentlich besprochen werden. Die „Times" erfreut sich ihres gegenwärtigen ungeheuren Einflusses nicht blos, weil sie täglich von fünfzig bis sechzigtau- send Personen gekauft und von zwei bis dreimalhunderttausend andern gelesen wird, sondern auch weil ihre Leser in ihrer Unterhaltung die Ansichten und Argumente reproduciren, die sie in ihren Artikeln ausgesprochen gesehen haben. Ohne daß sie es merken, werden sie Agenten für Verbreitung ihres Namens und Fortpflanzung ihrer Ideen, und so erfahren Hunderttausende an sich die Einwirkung der „Times", ohne sie jemals zu sehen. Man kann in Zweifel sein, ob Herrn Herzens Einfluß in Rußland sich nicht vermehren würde, falls er (die Einwilligung der kaiserlichen Regierung vorausgesetzt) für eine der ein¬ heimischen Wochenschriften schreiben und sich der Censur unterwerfen wollte, wie man sich andern Unbequemlichkeiten unterwirft, wenn es einem diese über¬ wiegenden Vortheil gilt. Gegenwärtig hat Herr Herzen die Freiheit zu schrei¬ ben, was ihm beliebt, aber nicht das Recht, sich nach Belieben an Jeden zu wenden. Jedes Heft des „Russischen Boten" kostet viermal so viel als eine Nummer der „Glocke" (die monatlich zweimal erscheint und von der das Heft sechs Pence kostet) und enthält etwa vierzigmal so viel Lesestoff, und alles das in einem Lande, wo das Papie.r zweimal soviel als in England kostet und der Setzerlohn, schon früher sehr hoch, sich seit der Thronbesteigung des jetzigen Kaisers verdoppelt hat. Der Absatz dieser einheimischen Wochen- und Mvnats- blätter muß also, mit dem der „Glocke" verglichen, sehr beträchtlich sein, und es fragt sich, ob, wie Heine es für klüger hielt, nur einen Theil dessen, was er dachte, in den Spalten der „Allgemeinen Zeitung" zu sagen, als genöthigt zu sein, Alles in der beschränkten Sphäre eines Bierhauses vorzutragen, es nicht auch vortheilhafter für die von Herrn Herzen gehegten Meinungen sein würde, in einem anerkannten und weitverbreiteten Organ mit Mäßigung aus¬ gesprochen als unverkürzt und mit Uebertreibung in einem Journal vertreten zu werden, welches eine sehr beschränkte Anzahl von Lesern hat und schwer zu erlangen sein muß. Herr Herzen würde sein System grober persönlicher An¬ griffe aufgeben müssen, die selten etwas Gutes zur Folge haben und welche minder gewichtig wirken, weil sie von einem Schriftsteller ausgehen, der im Ausland lebend für seine Worte ebenso wenig zur Rechenschaft gezogen werden kann, als der unverantwortliche Minister des Despotismus für seine Thaten. Unter der Negierung des Kaisers Nicolaus that Herzen, da man ihm nicht erlaubte, in Rußland zr< Worte zu kommen, recht daran, wenn er seine Schriften im Ausland drucken ließ. Er war 1832 der Meinung, daß bald „der einzige freie Fleck in Europa das Deck eines nach Amerika bestimmten Schiffes sein" würde, trotz welcher Meinung er als eine Sache, die sich von selbst versteht, in diesem unsern in Sklavenkettcn liegenden England alles Mögliche, was ihm einfiel, veröffentlichte mit Einschluß von Büchern, die in Frankreich und Deutsch-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 21, 1862, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341795_113779/356>, abgerufen am 08.01.2025.