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Die Grenzboten. Jg. 21, 1862, I. Semester. II. Band.

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den Juden. Man hat Priester im Lande, die jedoch gar keine religiöse Kennt¬
niß besitzen und wahrscheinlich nicht einmal getauft sind. Ihr Amt besteht nur
darin, daß sie an den Hauptfesten zwei an der Kirche hängende Schiefersteine
an einanderschlagcn, was die Glocke vorstellen soll. Häusig hörte Munzinger
die Ausdrücke Gott. Jesus. Dreieinigkeit, aber Niemand hatte eine Ahnung
von ihrer Bedeutung. Die heilige Jungfrau wird oft angerufen, aber daß sie
die Mutter Jesu gewesen, ist vollkommen unbekannt, wie denn überhaupt nir¬
gends Kenntniß der biblischen Geschichte anzutreffen ist. Von der Unsterblich¬
keit der Seele hat man nur unklare Vorstellungen, ebenso von Gott, für dessen
Bezeichnung und die des Himmels im Belen, der Sprache der Bogos, ein und
dasselbe Wort gebraucht wird. Die Begriffe von Gut und Böse verschwimmen
vielfältig in einander und haben kaum eine Bedeutung als die von Nützlich
und Unnütz. Ein Tugendhafter wird genannt: der Unerschrockne, der die Ge¬
fahr nicht flieht, der Bluträcher, der seinen Bruder nie genug gerächt glaubt,
der Schmagilli, welcher seinen Tigr6 wacker vertritt, der Verschwiegne, welcher
seinen Haß oder Eigennutz bis zum günstigsten Augenblick in sich verschließt, fer¬
ner der Artige, der für Freund und Feind gleich gute Worte hat, der Stolze,
der nie seiner Würde vergißt und nie gemeine Arbeit (z. B. das Melken der
Kühe) verrichtet, der Prunkliebcnde, der sich mit schönen Kleidern und Waffen
zeigt, der Reiche, der viele Kühe und Kinder besitzt, der kluge Rathgeber, der
seine Meinung klar vorzutragen versteht. Güte, Barmherzigkeit und Auf¬
opferung werden wenig geübt. Negierende Züge der Volksseele sind Neid,
Habgier und Undankbarkeit, Alles Aeußerungen eines rohen kurzsichtigen
Egoismus.

So wenig Religion die Bogos haben, so viel Aberglauben findet man
unter ihnen. Man fürchtet Hexerei, bösen Blick, Kometen, glaubt an gute
und böse Tage, an vorbedcutende Träume, an Wahrsagung und Vvgelflug.
Alle Hyänen, deren es im Lande unzählige gibt, gelten für eine Art von
Wehrwölfen. Manche von den abergläubischen Gebräuchen werden gewissen¬
hafter beobachtet als die Gesetze, ebenso manche andere Regeln, die gewisse
gleichgiltig scheinende Dinge ohne erklärbaren Grund gebieten oder untersagen,
weil sie gegen das "Sere", Herkommen sind. So gilt es für eine Schande,
frische Butter zu essen. So würde es als unglückbringendes Verbrechen an¬
gesehen werden, wenn ein Schmagilli oder eine Frau melken oder Getreide
schneiden wollte, oder wenn diese jemals den Namen ihres Gatten oder ihres
Schwiegervaters ausspräche, oder wenn ein Mann es wagte, sich das Gesicht
seiner Schwiegermutter anzusehen. Dagegen scheint es hier zu, Lande nichts
Unnatürliches, daß Jemand nach dem Ableben seines Vaters die Stiefmutter hei-
rathet, ja es ist vorgekommen, daß einer die Frau seines verstorbenen Sohnes zu
Ehe nahm. Die Frau des verstorbenen Bruders zu heirathen ist hier wie unter allen


Grenzboten II. 1S62. 4

den Juden. Man hat Priester im Lande, die jedoch gar keine religiöse Kennt¬
niß besitzen und wahrscheinlich nicht einmal getauft sind. Ihr Amt besteht nur
darin, daß sie an den Hauptfesten zwei an der Kirche hängende Schiefersteine
an einanderschlagcn, was die Glocke vorstellen soll. Häusig hörte Munzinger
die Ausdrücke Gott. Jesus. Dreieinigkeit, aber Niemand hatte eine Ahnung
von ihrer Bedeutung. Die heilige Jungfrau wird oft angerufen, aber daß sie
die Mutter Jesu gewesen, ist vollkommen unbekannt, wie denn überhaupt nir¬
gends Kenntniß der biblischen Geschichte anzutreffen ist. Von der Unsterblich¬
keit der Seele hat man nur unklare Vorstellungen, ebenso von Gott, für dessen
Bezeichnung und die des Himmels im Belen, der Sprache der Bogos, ein und
dasselbe Wort gebraucht wird. Die Begriffe von Gut und Böse verschwimmen
vielfältig in einander und haben kaum eine Bedeutung als die von Nützlich
und Unnütz. Ein Tugendhafter wird genannt: der Unerschrockne, der die Ge¬
fahr nicht flieht, der Bluträcher, der seinen Bruder nie genug gerächt glaubt,
der Schmagilli, welcher seinen Tigr6 wacker vertritt, der Verschwiegne, welcher
seinen Haß oder Eigennutz bis zum günstigsten Augenblick in sich verschließt, fer¬
ner der Artige, der für Freund und Feind gleich gute Worte hat, der Stolze,
der nie seiner Würde vergißt und nie gemeine Arbeit (z. B. das Melken der
Kühe) verrichtet, der Prunkliebcnde, der sich mit schönen Kleidern und Waffen
zeigt, der Reiche, der viele Kühe und Kinder besitzt, der kluge Rathgeber, der
seine Meinung klar vorzutragen versteht. Güte, Barmherzigkeit und Auf¬
opferung werden wenig geübt. Negierende Züge der Volksseele sind Neid,
Habgier und Undankbarkeit, Alles Aeußerungen eines rohen kurzsichtigen
Egoismus.

So wenig Religion die Bogos haben, so viel Aberglauben findet man
unter ihnen. Man fürchtet Hexerei, bösen Blick, Kometen, glaubt an gute
und böse Tage, an vorbedcutende Träume, an Wahrsagung und Vvgelflug.
Alle Hyänen, deren es im Lande unzählige gibt, gelten für eine Art von
Wehrwölfen. Manche von den abergläubischen Gebräuchen werden gewissen¬
hafter beobachtet als die Gesetze, ebenso manche andere Regeln, die gewisse
gleichgiltig scheinende Dinge ohne erklärbaren Grund gebieten oder untersagen,
weil sie gegen das „Sere", Herkommen sind. So gilt es für eine Schande,
frische Butter zu essen. So würde es als unglückbringendes Verbrechen an¬
gesehen werden, wenn ein Schmagilli oder eine Frau melken oder Getreide
schneiden wollte, oder wenn diese jemals den Namen ihres Gatten oder ihres
Schwiegervaters ausspräche, oder wenn ein Mann es wagte, sich das Gesicht
seiner Schwiegermutter anzusehen. Dagegen scheint es hier zu, Lande nichts
Unnatürliches, daß Jemand nach dem Ableben seines Vaters die Stiefmutter hei-
rathet, ja es ist vorgekommen, daß einer die Frau seines verstorbenen Sohnes zu
Ehe nahm. Die Frau des verstorbenen Bruders zu heirathen ist hier wie unter allen


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[0033] den Juden. Man hat Priester im Lande, die jedoch gar keine religiöse Kennt¬ niß besitzen und wahrscheinlich nicht einmal getauft sind. Ihr Amt besteht nur darin, daß sie an den Hauptfesten zwei an der Kirche hängende Schiefersteine an einanderschlagcn, was die Glocke vorstellen soll. Häusig hörte Munzinger die Ausdrücke Gott. Jesus. Dreieinigkeit, aber Niemand hatte eine Ahnung von ihrer Bedeutung. Die heilige Jungfrau wird oft angerufen, aber daß sie die Mutter Jesu gewesen, ist vollkommen unbekannt, wie denn überhaupt nir¬ gends Kenntniß der biblischen Geschichte anzutreffen ist. Von der Unsterblich¬ keit der Seele hat man nur unklare Vorstellungen, ebenso von Gott, für dessen Bezeichnung und die des Himmels im Belen, der Sprache der Bogos, ein und dasselbe Wort gebraucht wird. Die Begriffe von Gut und Böse verschwimmen vielfältig in einander und haben kaum eine Bedeutung als die von Nützlich und Unnütz. Ein Tugendhafter wird genannt: der Unerschrockne, der die Ge¬ fahr nicht flieht, der Bluträcher, der seinen Bruder nie genug gerächt glaubt, der Schmagilli, welcher seinen Tigr6 wacker vertritt, der Verschwiegne, welcher seinen Haß oder Eigennutz bis zum günstigsten Augenblick in sich verschließt, fer¬ ner der Artige, der für Freund und Feind gleich gute Worte hat, der Stolze, der nie seiner Würde vergißt und nie gemeine Arbeit (z. B. das Melken der Kühe) verrichtet, der Prunkliebcnde, der sich mit schönen Kleidern und Waffen zeigt, der Reiche, der viele Kühe und Kinder besitzt, der kluge Rathgeber, der seine Meinung klar vorzutragen versteht. Güte, Barmherzigkeit und Auf¬ opferung werden wenig geübt. Negierende Züge der Volksseele sind Neid, Habgier und Undankbarkeit, Alles Aeußerungen eines rohen kurzsichtigen Egoismus. So wenig Religion die Bogos haben, so viel Aberglauben findet man unter ihnen. Man fürchtet Hexerei, bösen Blick, Kometen, glaubt an gute und böse Tage, an vorbedcutende Träume, an Wahrsagung und Vvgelflug. Alle Hyänen, deren es im Lande unzählige gibt, gelten für eine Art von Wehrwölfen. Manche von den abergläubischen Gebräuchen werden gewissen¬ hafter beobachtet als die Gesetze, ebenso manche andere Regeln, die gewisse gleichgiltig scheinende Dinge ohne erklärbaren Grund gebieten oder untersagen, weil sie gegen das „Sere", Herkommen sind. So gilt es für eine Schande, frische Butter zu essen. So würde es als unglückbringendes Verbrechen an¬ gesehen werden, wenn ein Schmagilli oder eine Frau melken oder Getreide schneiden wollte, oder wenn diese jemals den Namen ihres Gatten oder ihres Schwiegervaters ausspräche, oder wenn ein Mann es wagte, sich das Gesicht seiner Schwiegermutter anzusehen. Dagegen scheint es hier zu, Lande nichts Unnatürliches, daß Jemand nach dem Ableben seines Vaters die Stiefmutter hei- rathet, ja es ist vorgekommen, daß einer die Frau seines verstorbenen Sohnes zu Ehe nahm. Die Frau des verstorbenen Bruders zu heirathen ist hier wie unter allen Grenzboten II. 1S62. 4

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 21, 1862, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341795_113779/33>, abgerufen am 06.01.2025.