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Die Grenzboten. Jg. 21, 1862, I. Semester. II. Band.

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man sich in einem großen Irrthum befinden. Savoyen hat nicht blos niemals
eine finanzielle Unterstützung "der Beihilfe von Piemont erhalten. -- es hat
vielmehr jährlich die verhältnißmäßig ungeheure Summe von 10 Millionen
Francs an die gemeinschaftliche Kasse gezahlt, und aus dieser nie mehr als
etwa 3 Millionen bezogen, -- so daß also jährlich 7 Millionen über die Alpen
gingen, um nie wieder zurückzukehren.

Um ein solches System der Aussaugung ertragen zu können, hat Savoyen
neben seinen Producten die außerordentlichen Hilfsquellen, welche aus der Hand
der Reisenden ihm zufließen. Die Naturschönheiten seiner Gebirgsgegenden,
an ihrer Spitze das weltberühmte Chcnnvuny, und die vielen mineralischen
Bäder, die besonders von Frankreich aus sehr stark besucht werden, Air,, Se.
Gervais, Evian, Brides, la Crille, Challes u. s. w. ziehen eine unglaubliche
Menge von Fremden herbei, welche dem Lande in dieser Weise tributär wer¬
den. Als Folge hiervon sah man auch schon früher fast ausschließlich franzö¬
sische Münze in Savoyen circuliren; nicht der zwanzigste Theil derselben war
sardinischen Ursprungs.

Solche Verhältnisse erleichterten der Propaganda für die Annexion an
Frankreich wesentlich ihre Arbeit, und wie sie dieselben ausbeutete, um mit
vollständiger Beseitigung der Schweiz und ihrer langgestreckten Grenzen ganz
ausschließlich das Gewicht für Frankreich in die Wagschale zu legen, ist interes¬
sant zu verfolgen.

Zuvörderst ward das ungünstige Verhältniß des Exports nach Piemont
hervorgehoben. Dorthin bringt Savoyen nur einiges Vieh und eine kleine
Quantität Leder und Käse. An der entgegengesetzten Seite der Alpen findet
man im Uebcrfluh Producte, welche denen Savoyens ähnlich sind, und letzteres
hat überdem noch den ungünstigen Transport über den Mont Cenis zu tragen,
dessen Kosten sich für die Strecke von Se. Jean de Maurienne und Susa, den
beiden Endpunkten der Eisenbahnen, auf 3 Fras. l>0 Ces. für 100 Pfund be¬
laufen. Dem Einwände, daß dieses Hinderniß des freien Verkehrs zwi¬
schen den Provinzen zu beiden Seiten der Alpen verschwinden werde mit
der Vollendung des bereits vor mehreren Jahren begonnenen Tunnels durch
den Mont Cenis, ward die Behauptung entgegengesetzt, das; man längst einge¬
sehen habe, ein so riesiges Werk könne nur durch Frankreich ausgeführt wer¬
den, nicht aber durch einen Staat zweiten Ranges, der überdem noch so belastet
sei wie der sardinische.

Jedes Land aber, wenn es nicht blos von Wilden oder von Hirten be-
wohnt wird, bedarf zu seinem Wohlsein nothwendig mannigfacher Mittel und
Wege, um seine natürlichen und industriellen Producte durch Verkauf oder
Tausch verwerthen zu können. Diese Abzugskanäle sind für Savoyen nach
der italienischen Seite hin durch die Natur versperrt; -- es bleibt also nur


man sich in einem großen Irrthum befinden. Savoyen hat nicht blos niemals
eine finanzielle Unterstützung »der Beihilfe von Piemont erhalten. — es hat
vielmehr jährlich die verhältnißmäßig ungeheure Summe von 10 Millionen
Francs an die gemeinschaftliche Kasse gezahlt, und aus dieser nie mehr als
etwa 3 Millionen bezogen, — so daß also jährlich 7 Millionen über die Alpen
gingen, um nie wieder zurückzukehren.

Um ein solches System der Aussaugung ertragen zu können, hat Savoyen
neben seinen Producten die außerordentlichen Hilfsquellen, welche aus der Hand
der Reisenden ihm zufließen. Die Naturschönheiten seiner Gebirgsgegenden,
an ihrer Spitze das weltberühmte Chcnnvuny, und die vielen mineralischen
Bäder, die besonders von Frankreich aus sehr stark besucht werden, Air,, Se.
Gervais, Evian, Brides, la Crille, Challes u. s. w. ziehen eine unglaubliche
Menge von Fremden herbei, welche dem Lande in dieser Weise tributär wer¬
den. Als Folge hiervon sah man auch schon früher fast ausschließlich franzö¬
sische Münze in Savoyen circuliren; nicht der zwanzigste Theil derselben war
sardinischen Ursprungs.

Solche Verhältnisse erleichterten der Propaganda für die Annexion an
Frankreich wesentlich ihre Arbeit, und wie sie dieselben ausbeutete, um mit
vollständiger Beseitigung der Schweiz und ihrer langgestreckten Grenzen ganz
ausschließlich das Gewicht für Frankreich in die Wagschale zu legen, ist interes¬
sant zu verfolgen.

Zuvörderst ward das ungünstige Verhältniß des Exports nach Piemont
hervorgehoben. Dorthin bringt Savoyen nur einiges Vieh und eine kleine
Quantität Leder und Käse. An der entgegengesetzten Seite der Alpen findet
man im Uebcrfluh Producte, welche denen Savoyens ähnlich sind, und letzteres
hat überdem noch den ungünstigen Transport über den Mont Cenis zu tragen,
dessen Kosten sich für die Strecke von Se. Jean de Maurienne und Susa, den
beiden Endpunkten der Eisenbahnen, auf 3 Fras. l>0 Ces. für 100 Pfund be¬
laufen. Dem Einwände, daß dieses Hinderniß des freien Verkehrs zwi¬
schen den Provinzen zu beiden Seiten der Alpen verschwinden werde mit
der Vollendung des bereits vor mehreren Jahren begonnenen Tunnels durch
den Mont Cenis, ward die Behauptung entgegengesetzt, das; man längst einge¬
sehen habe, ein so riesiges Werk könne nur durch Frankreich ausgeführt wer¬
den, nicht aber durch einen Staat zweiten Ranges, der überdem noch so belastet
sei wie der sardinische.

Jedes Land aber, wenn es nicht blos von Wilden oder von Hirten be-
wohnt wird, bedarf zu seinem Wohlsein nothwendig mannigfacher Mittel und
Wege, um seine natürlichen und industriellen Producte durch Verkauf oder
Tausch verwerthen zu können. Diese Abzugskanäle sind für Savoyen nach
der italienischen Seite hin durch die Natur versperrt; — es bleibt also nur


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[0262] man sich in einem großen Irrthum befinden. Savoyen hat nicht blos niemals eine finanzielle Unterstützung »der Beihilfe von Piemont erhalten. — es hat vielmehr jährlich die verhältnißmäßig ungeheure Summe von 10 Millionen Francs an die gemeinschaftliche Kasse gezahlt, und aus dieser nie mehr als etwa 3 Millionen bezogen, — so daß also jährlich 7 Millionen über die Alpen gingen, um nie wieder zurückzukehren. Um ein solches System der Aussaugung ertragen zu können, hat Savoyen neben seinen Producten die außerordentlichen Hilfsquellen, welche aus der Hand der Reisenden ihm zufließen. Die Naturschönheiten seiner Gebirgsgegenden, an ihrer Spitze das weltberühmte Chcnnvuny, und die vielen mineralischen Bäder, die besonders von Frankreich aus sehr stark besucht werden, Air,, Se. Gervais, Evian, Brides, la Crille, Challes u. s. w. ziehen eine unglaubliche Menge von Fremden herbei, welche dem Lande in dieser Weise tributär wer¬ den. Als Folge hiervon sah man auch schon früher fast ausschließlich franzö¬ sische Münze in Savoyen circuliren; nicht der zwanzigste Theil derselben war sardinischen Ursprungs. Solche Verhältnisse erleichterten der Propaganda für die Annexion an Frankreich wesentlich ihre Arbeit, und wie sie dieselben ausbeutete, um mit vollständiger Beseitigung der Schweiz und ihrer langgestreckten Grenzen ganz ausschließlich das Gewicht für Frankreich in die Wagschale zu legen, ist interes¬ sant zu verfolgen. Zuvörderst ward das ungünstige Verhältniß des Exports nach Piemont hervorgehoben. Dorthin bringt Savoyen nur einiges Vieh und eine kleine Quantität Leder und Käse. An der entgegengesetzten Seite der Alpen findet man im Uebcrfluh Producte, welche denen Savoyens ähnlich sind, und letzteres hat überdem noch den ungünstigen Transport über den Mont Cenis zu tragen, dessen Kosten sich für die Strecke von Se. Jean de Maurienne und Susa, den beiden Endpunkten der Eisenbahnen, auf 3 Fras. l>0 Ces. für 100 Pfund be¬ laufen. Dem Einwände, daß dieses Hinderniß des freien Verkehrs zwi¬ schen den Provinzen zu beiden Seiten der Alpen verschwinden werde mit der Vollendung des bereits vor mehreren Jahren begonnenen Tunnels durch den Mont Cenis, ward die Behauptung entgegengesetzt, das; man längst einge¬ sehen habe, ein so riesiges Werk könne nur durch Frankreich ausgeführt wer¬ den, nicht aber durch einen Staat zweiten Ranges, der überdem noch so belastet sei wie der sardinische. Jedes Land aber, wenn es nicht blos von Wilden oder von Hirten be- wohnt wird, bedarf zu seinem Wohlsein nothwendig mannigfacher Mittel und Wege, um seine natürlichen und industriellen Producte durch Verkauf oder Tausch verwerthen zu können. Diese Abzugskanäle sind für Savoyen nach der italienischen Seite hin durch die Natur versperrt; — es bleibt also nur

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 21, 1862, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341795_113779/262>, abgerufen am 08.01.2025.