Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 21, 1862, I. Semester. II. Band.

Bild:
<< vorherige Seite

beharrliche Kämpfe gegen das Priesterthum und gegen Rom geführt wurden.
Ihre Treue aber für den angestammten Herzog und Landesherrn konnte da¬
durch nicht wankend gemacht werden, und an ihr scheiterten die Aufhetzereien
der Priesterpartei.

Als nun das moderne Frankreich, dessen Kaiserthum der Frieden ist, und
das seinen Ruhm lediglich darin findet für Ideen in den Kampf zu ziehen,
durch den Schmerzensschrei Italiens zum aggressiven Bündniß mit Piemont ge¬
zwungen und im weitern Verlaufe der Ereignisse genöthigt ward, mit antiker Selbst-
verläugnung die Abtretung von Savoyen und Nizza anzunehmen, -- da ent¬
stand eine Aufregung der Gemüther, welche weit hinaus über die Grenzen
der betreffenden Ländergebiete sich erstreckte. Das radicale Beschönigungs¬
mittel der freien Selbstbestimmung des Volks ward auch hier wieder mit ge¬
schickter Hand in Scene gesetzt; bei der Wahl zwischen Annexion an Frankreich
oder einer dunkeln Zukunft konnte der Sieg einer rührigen Agentenschaar und
der gegen Piemont principiell feindseligen Priesterkaste nicht zweifelhaft sein.

Heute ist die Annexion Savoyens seit Jahr und Tag eine vollendete
Thatsache, und der dadurch hervorgerufene Unwille macht sich abgesehen von
den Klagen des schwer getäuschten Volkes, nur noch mittelst einzelner perio¬
discher Ausbrüche im schweizerischen Bundesrathe und im Englischen Parla¬
mente bemerkbar. Aber im Gegensatz zu dem factischen Zustande bleibt die
theoretische Seite dieser Verhältnisse immer eine offene Frag/.

Das Interesse Frankreichs und Piemonts kann man dabei unerörtert las¬
sen; bei einem Handel auf Kosten eines Dritten konnten natürlich beide Pa-
ciscenten nur gewinnen. Ob es politisch war, die angestrebte Herrschaft über
eine innerlich zerrissene Nation mit der Aufopferung des angebornen Stamm¬
landes, mit der Preisgebung der Grabmäler seiner Vorfahren zu erkaufen, --
ob es ein Fehler war, eine'von der Natur mit den mannigfaltigsten Vcr-
therdigungsmitteln ausgerüstete Grenzfeste dem mächtigeren Nachbarn abzu¬
treten, -- darüber werden die Consequenzen dieses Verfahrens dereinst klare
Aufschlüsse geben. -- Auch das Interesse der übrigen Großmächte mit dem so oft-
hervorgehobenen Princip des europäischen Gleichgewichts kann hier übergangen
werden; daß sie die absichtliche Nichtachtung der Verträge von 1815 nicht zu
hindern vermochten, bleibt immerhin das beachtenswerthe Bekenntniß einer Ohn¬
macht, die weniger in der überwiegenden Machtstellung Frankreichs, als in der
fatalistischen Eifersucht und dem verblendeten Mißtrauen der Uebrigen ihren
Grund hat.

Hier wollen wir nur die Interessen derjenigen Betheiligten ins Auge fas¬
sen, welche durch die Annexion unmittelbar und in umfassender Weise berührt
wurden, ohne eine andere Rolle als die des Leidenden dabei zugetheilt zu er¬
halten. Es ist dies Savoyen selbst, Land und Leute, welche das Object des


beharrliche Kämpfe gegen das Priesterthum und gegen Rom geführt wurden.
Ihre Treue aber für den angestammten Herzog und Landesherrn konnte da¬
durch nicht wankend gemacht werden, und an ihr scheiterten die Aufhetzereien
der Priesterpartei.

Als nun das moderne Frankreich, dessen Kaiserthum der Frieden ist, und
das seinen Ruhm lediglich darin findet für Ideen in den Kampf zu ziehen,
durch den Schmerzensschrei Italiens zum aggressiven Bündniß mit Piemont ge¬
zwungen und im weitern Verlaufe der Ereignisse genöthigt ward, mit antiker Selbst-
verläugnung die Abtretung von Savoyen und Nizza anzunehmen, — da ent¬
stand eine Aufregung der Gemüther, welche weit hinaus über die Grenzen
der betreffenden Ländergebiete sich erstreckte. Das radicale Beschönigungs¬
mittel der freien Selbstbestimmung des Volks ward auch hier wieder mit ge¬
schickter Hand in Scene gesetzt; bei der Wahl zwischen Annexion an Frankreich
oder einer dunkeln Zukunft konnte der Sieg einer rührigen Agentenschaar und
der gegen Piemont principiell feindseligen Priesterkaste nicht zweifelhaft sein.

Heute ist die Annexion Savoyens seit Jahr und Tag eine vollendete
Thatsache, und der dadurch hervorgerufene Unwille macht sich abgesehen von
den Klagen des schwer getäuschten Volkes, nur noch mittelst einzelner perio¬
discher Ausbrüche im schweizerischen Bundesrathe und im Englischen Parla¬
mente bemerkbar. Aber im Gegensatz zu dem factischen Zustande bleibt die
theoretische Seite dieser Verhältnisse immer eine offene Frag/.

Das Interesse Frankreichs und Piemonts kann man dabei unerörtert las¬
sen; bei einem Handel auf Kosten eines Dritten konnten natürlich beide Pa-
ciscenten nur gewinnen. Ob es politisch war, die angestrebte Herrschaft über
eine innerlich zerrissene Nation mit der Aufopferung des angebornen Stamm¬
landes, mit der Preisgebung der Grabmäler seiner Vorfahren zu erkaufen, —
ob es ein Fehler war, eine'von der Natur mit den mannigfaltigsten Vcr-
therdigungsmitteln ausgerüstete Grenzfeste dem mächtigeren Nachbarn abzu¬
treten, — darüber werden die Consequenzen dieses Verfahrens dereinst klare
Aufschlüsse geben. — Auch das Interesse der übrigen Großmächte mit dem so oft-
hervorgehobenen Princip des europäischen Gleichgewichts kann hier übergangen
werden; daß sie die absichtliche Nichtachtung der Verträge von 1815 nicht zu
hindern vermochten, bleibt immerhin das beachtenswerthe Bekenntniß einer Ohn¬
macht, die weniger in der überwiegenden Machtstellung Frankreichs, als in der
fatalistischen Eifersucht und dem verblendeten Mißtrauen der Uebrigen ihren
Grund hat.

Hier wollen wir nur die Interessen derjenigen Betheiligten ins Auge fas¬
sen, welche durch die Annexion unmittelbar und in umfassender Weise berührt
wurden, ohne eine andere Rolle als die des Leidenden dabei zugetheilt zu er¬
halten. Es ist dies Savoyen selbst, Land und Leute, welche das Object des


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0255" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/114035"/>
          <p xml:id="ID_734" prev="#ID_733"> beharrliche Kämpfe gegen das Priesterthum und gegen Rom geführt wurden.<lb/>
Ihre Treue aber für den angestammten Herzog und Landesherrn konnte da¬<lb/>
durch nicht wankend gemacht werden, und an ihr scheiterten die Aufhetzereien<lb/>
der Priesterpartei.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_735"> Als nun das moderne Frankreich, dessen Kaiserthum der Frieden ist, und<lb/>
das seinen Ruhm lediglich darin findet für Ideen in den Kampf zu ziehen,<lb/>
durch den Schmerzensschrei Italiens zum aggressiven Bündniß mit Piemont ge¬<lb/>
zwungen und im weitern Verlaufe der Ereignisse genöthigt ward, mit antiker Selbst-<lb/>
verläugnung die Abtretung von Savoyen und Nizza anzunehmen, &#x2014; da ent¬<lb/>
stand eine Aufregung der Gemüther, welche weit hinaus über die Grenzen<lb/>
der betreffenden Ländergebiete sich erstreckte. Das radicale Beschönigungs¬<lb/>
mittel der freien Selbstbestimmung des Volks ward auch hier wieder mit ge¬<lb/>
schickter Hand in Scene gesetzt; bei der Wahl zwischen Annexion an Frankreich<lb/>
oder einer dunkeln Zukunft konnte der Sieg einer rührigen Agentenschaar und<lb/>
der gegen Piemont principiell feindseligen Priesterkaste nicht zweifelhaft sein.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_736"> Heute ist die Annexion Savoyens seit Jahr und Tag eine vollendete<lb/>
Thatsache, und der dadurch hervorgerufene Unwille macht sich abgesehen von<lb/>
den Klagen des schwer getäuschten Volkes, nur noch mittelst einzelner perio¬<lb/>
discher Ausbrüche im schweizerischen Bundesrathe und im Englischen Parla¬<lb/>
mente bemerkbar. Aber im Gegensatz zu dem factischen Zustande bleibt die<lb/>
theoretische Seite dieser Verhältnisse immer eine offene Frag/.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_737"> Das Interesse Frankreichs und Piemonts kann man dabei unerörtert las¬<lb/>
sen; bei einem Handel auf Kosten eines Dritten konnten natürlich beide Pa-<lb/>
ciscenten nur gewinnen. Ob es politisch war, die angestrebte Herrschaft über<lb/>
eine innerlich zerrissene Nation mit der Aufopferung des angebornen Stamm¬<lb/>
landes, mit der Preisgebung der Grabmäler seiner Vorfahren zu erkaufen, &#x2014;<lb/>
ob es ein Fehler war, eine'von der Natur mit den mannigfaltigsten Vcr-<lb/>
therdigungsmitteln ausgerüstete Grenzfeste dem mächtigeren Nachbarn abzu¬<lb/>
treten, &#x2014; darüber werden die Consequenzen dieses Verfahrens dereinst klare<lb/>
Aufschlüsse geben. &#x2014; Auch das Interesse der übrigen Großmächte mit dem so oft-<lb/>
hervorgehobenen Princip des europäischen Gleichgewichts kann hier übergangen<lb/>
werden; daß sie die absichtliche Nichtachtung der Verträge von 1815 nicht zu<lb/>
hindern vermochten, bleibt immerhin das beachtenswerthe Bekenntniß einer Ohn¬<lb/>
macht, die weniger in der überwiegenden Machtstellung Frankreichs, als in der<lb/>
fatalistischen Eifersucht und dem verblendeten Mißtrauen der Uebrigen ihren<lb/>
Grund hat.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_738" next="#ID_739"> Hier wollen wir nur die Interessen derjenigen Betheiligten ins Auge fas¬<lb/>
sen, welche durch die Annexion unmittelbar und in umfassender Weise berührt<lb/>
wurden, ohne eine andere Rolle als die des Leidenden dabei zugetheilt zu er¬<lb/>
halten.  Es ist dies Savoyen selbst, Land und Leute, welche das Object des</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0255] beharrliche Kämpfe gegen das Priesterthum und gegen Rom geführt wurden. Ihre Treue aber für den angestammten Herzog und Landesherrn konnte da¬ durch nicht wankend gemacht werden, und an ihr scheiterten die Aufhetzereien der Priesterpartei. Als nun das moderne Frankreich, dessen Kaiserthum der Frieden ist, und das seinen Ruhm lediglich darin findet für Ideen in den Kampf zu ziehen, durch den Schmerzensschrei Italiens zum aggressiven Bündniß mit Piemont ge¬ zwungen und im weitern Verlaufe der Ereignisse genöthigt ward, mit antiker Selbst- verläugnung die Abtretung von Savoyen und Nizza anzunehmen, — da ent¬ stand eine Aufregung der Gemüther, welche weit hinaus über die Grenzen der betreffenden Ländergebiete sich erstreckte. Das radicale Beschönigungs¬ mittel der freien Selbstbestimmung des Volks ward auch hier wieder mit ge¬ schickter Hand in Scene gesetzt; bei der Wahl zwischen Annexion an Frankreich oder einer dunkeln Zukunft konnte der Sieg einer rührigen Agentenschaar und der gegen Piemont principiell feindseligen Priesterkaste nicht zweifelhaft sein. Heute ist die Annexion Savoyens seit Jahr und Tag eine vollendete Thatsache, und der dadurch hervorgerufene Unwille macht sich abgesehen von den Klagen des schwer getäuschten Volkes, nur noch mittelst einzelner perio¬ discher Ausbrüche im schweizerischen Bundesrathe und im Englischen Parla¬ mente bemerkbar. Aber im Gegensatz zu dem factischen Zustande bleibt die theoretische Seite dieser Verhältnisse immer eine offene Frag/. Das Interesse Frankreichs und Piemonts kann man dabei unerörtert las¬ sen; bei einem Handel auf Kosten eines Dritten konnten natürlich beide Pa- ciscenten nur gewinnen. Ob es politisch war, die angestrebte Herrschaft über eine innerlich zerrissene Nation mit der Aufopferung des angebornen Stamm¬ landes, mit der Preisgebung der Grabmäler seiner Vorfahren zu erkaufen, — ob es ein Fehler war, eine'von der Natur mit den mannigfaltigsten Vcr- therdigungsmitteln ausgerüstete Grenzfeste dem mächtigeren Nachbarn abzu¬ treten, — darüber werden die Consequenzen dieses Verfahrens dereinst klare Aufschlüsse geben. — Auch das Interesse der übrigen Großmächte mit dem so oft- hervorgehobenen Princip des europäischen Gleichgewichts kann hier übergangen werden; daß sie die absichtliche Nichtachtung der Verträge von 1815 nicht zu hindern vermochten, bleibt immerhin das beachtenswerthe Bekenntniß einer Ohn¬ macht, die weniger in der überwiegenden Machtstellung Frankreichs, als in der fatalistischen Eifersucht und dem verblendeten Mißtrauen der Uebrigen ihren Grund hat. Hier wollen wir nur die Interessen derjenigen Betheiligten ins Auge fas¬ sen, welche durch die Annexion unmittelbar und in umfassender Weise berührt wurden, ohne eine andere Rolle als die des Leidenden dabei zugetheilt zu er¬ halten. Es ist dies Savoyen selbst, Land und Leute, welche das Object des

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341795_113779
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341795_113779/255
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 21, 1862, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341795_113779/255>, abgerufen am 08.01.2025.