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Die Grenzboten. Jg. 21, 1862, I. Semester. II. Band.

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fehlt, läßt sich wohl erwarten, daß seine Gestalten die Fülle des Daseins ha-
ben> welches die malerische Erscheinung voraussehe. Auch sind seine Figuren keine
Theaterhelden mit angelogenem Pathos und von künstlicher Bewegung, keine
Schemen; und die körperliche Bildung zeugt im Ganzen von einem richtigen
Verständniß der Form. Aber dennoch, den freien, leichten Wurf des voll und
selbständig hinausgegebenen Lebens haben die Gestalten nicht, ebensowenig die
Tiefe des Daseins, das vom Künstler losgelöst ganz in sich ruht und für sich
ist. Allen ist noch etwas von dem Gepräge der Anstrengung geblieben, welche
sie hervorgebracht hat; sie sind nicht ganz zu der Wirklichkeit herausgewachsen,
welche in der Kunst an die Stelle der Natur tritt, und die es eben ist, welche
den Beschauer aus der realen in die ästhetische Welt versetzt. Man Merkt mit
einem Wort die Arbeit, und so fehlt der eigentliche Lcbensfunkc. Auch in der
farbigen Erscheinung ist die Mühe sichtbar; es fehlt hier ebenfalls am Reiz der
freien malerischen Erscheinung, während es doch offenbar auf em kräftiges,
farbenglühendes Scheinen und Leuchten abgesehen war. Daß nun die Gestal-
ten das Mächtige der fest in sich gegründeten Existenz nicht haben, daß ihnen
in der äußeren Bildung die Vollendung fehlt, im Ausdruck die Tiefe der inne¬
ren Bewegtheit, daran macg zum Theil wohl der geschichtliche Stoff schuld sein,
der mit seinem ganzen Lebensinhalte in der bildenden Kunst nicht heimisch wer¬
den kann. Aber zum andern Theil sehen wir hie^r eine Folge der eigensinnigen
Ms sich gesteifter Originalität des Künstlers, welche die mustergiltige Vergangen¬
heit nicht einmal als Mittel der Bildung benutzen will und lediglich aus sich
selber und an der Hand der Natur über die Bedingungen der Kunst Herr wer¬
den zu können meint. Es ist schon oben bemerkt, daß die Originalen sich täu¬
schen, indem sie nur auf ihren Füßen zu stehen meinen, und wie ihre eigne
Kunst darunter leidet, daß sie den großen Vorbildern den Rücken kehren. Auch
Lessing will selber den langwierigen Proceß vollziehen, in welchem die Kunst
von Jahrhunderten die natürliche Wirklichkeit in die ästhetische umsetzt; und das
in einer Zeit, die nichts weniger als die Zeugungskraft hat. ihren Inhalt voll
und kühn der Natur in den Schooß zu werfen Und ihm so seinen Ausdruck in
unmittelbarem Guß zu geben. Daher kann er ebenfalls der Erscheinung die
Fülle und Freiheit nicht geben, welche erste Bedingung der Kunst ist, und so
kommt die Seele des Vorgangs nicht zum Durchbruch, schlägt nicht in den Be¬
schauer belebend und bewegend über. Wir machen' dem Maler den Ernst der
GestnnÄtiK' die Tüchtigkeit des Strebens. den Adel der Auffassung nicht strei¬
tig, aber' wir bedauern, daß diese Eigenschaften an der Ausführung einen Damm
gefunden haben, der sich ihrem Fluß entgegenstemmt und sie zrtt vollen Er¬
scheinung nicht herauslässt.

Ließ sich der von Lessing gewählte Stoff, dessen welthistorische Bedeutung
zudem zweifelhaft ist. in die malerische Darstellung nur' mühsam fassen, so


Grenzboten II. 1L62. 22

fehlt, läßt sich wohl erwarten, daß seine Gestalten die Fülle des Daseins ha-
ben> welches die malerische Erscheinung voraussehe. Auch sind seine Figuren keine
Theaterhelden mit angelogenem Pathos und von künstlicher Bewegung, keine
Schemen; und die körperliche Bildung zeugt im Ganzen von einem richtigen
Verständniß der Form. Aber dennoch, den freien, leichten Wurf des voll und
selbständig hinausgegebenen Lebens haben die Gestalten nicht, ebensowenig die
Tiefe des Daseins, das vom Künstler losgelöst ganz in sich ruht und für sich
ist. Allen ist noch etwas von dem Gepräge der Anstrengung geblieben, welche
sie hervorgebracht hat; sie sind nicht ganz zu der Wirklichkeit herausgewachsen,
welche in der Kunst an die Stelle der Natur tritt, und die es eben ist, welche
den Beschauer aus der realen in die ästhetische Welt versetzt. Man Merkt mit
einem Wort die Arbeit, und so fehlt der eigentliche Lcbensfunkc. Auch in der
farbigen Erscheinung ist die Mühe sichtbar; es fehlt hier ebenfalls am Reiz der
freien malerischen Erscheinung, während es doch offenbar auf em kräftiges,
farbenglühendes Scheinen und Leuchten abgesehen war. Daß nun die Gestal-
ten das Mächtige der fest in sich gegründeten Existenz nicht haben, daß ihnen
in der äußeren Bildung die Vollendung fehlt, im Ausdruck die Tiefe der inne¬
ren Bewegtheit, daran macg zum Theil wohl der geschichtliche Stoff schuld sein,
der mit seinem ganzen Lebensinhalte in der bildenden Kunst nicht heimisch wer¬
den kann. Aber zum andern Theil sehen wir hie^r eine Folge der eigensinnigen
Ms sich gesteifter Originalität des Künstlers, welche die mustergiltige Vergangen¬
heit nicht einmal als Mittel der Bildung benutzen will und lediglich aus sich
selber und an der Hand der Natur über die Bedingungen der Kunst Herr wer¬
den zu können meint. Es ist schon oben bemerkt, daß die Originalen sich täu¬
schen, indem sie nur auf ihren Füßen zu stehen meinen, und wie ihre eigne
Kunst darunter leidet, daß sie den großen Vorbildern den Rücken kehren. Auch
Lessing will selber den langwierigen Proceß vollziehen, in welchem die Kunst
von Jahrhunderten die natürliche Wirklichkeit in die ästhetische umsetzt; und das
in einer Zeit, die nichts weniger als die Zeugungskraft hat. ihren Inhalt voll
und kühn der Natur in den Schooß zu werfen Und ihm so seinen Ausdruck in
unmittelbarem Guß zu geben. Daher kann er ebenfalls der Erscheinung die
Fülle und Freiheit nicht geben, welche erste Bedingung der Kunst ist, und so
kommt die Seele des Vorgangs nicht zum Durchbruch, schlägt nicht in den Be¬
schauer belebend und bewegend über. Wir machen' dem Maler den Ernst der
GestnnÄtiK' die Tüchtigkeit des Strebens. den Adel der Auffassung nicht strei¬
tig, aber' wir bedauern, daß diese Eigenschaften an der Ausführung einen Damm
gefunden haben, der sich ihrem Fluß entgegenstemmt und sie zrtt vollen Er¬
scheinung nicht herauslässt.

Ließ sich der von Lessing gewählte Stoff, dessen welthistorische Bedeutung
zudem zweifelhaft ist. in die malerische Darstellung nur' mühsam fassen, so


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 21, 1862, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341795_113779/177>, abgerufen am 08.01.2025.