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Die Grenzboten. Jg. 21, 1862, I. Semester. II. Band.

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aus den Mustern der Kunst abgezogene Regel überliefert, welche unbewußt auch
in der Anschauung des reiferen Alters immer wieder anklingt. Ist er origi¬
nell, indem er die gründliche Durchbildung nach jenen Mustern von sich ab¬
lehnt, dagegen der Macht halber Eindrücke unwillkürlich unterliegt, und würde
ihm nicht vielmehr die tiefere aus eigener Arbeit erworbene Kenntniß die volle
Freiheit der Phantasie zurückgeben? Und glaubt er die Bedingungen seiner
Kunst leichter ebensowohl lernen, als lehren zu können, indem er absichtlich um
die vollendete Form sich nicht kümmert, in welcher sie von der Geschichte dem
empfänglichen Auge übergeben wird? Indem er mit unzulänglichen Mitteln und
ungeübten Kräften es allein aus sich selber unternimmt, die wirkliche Natur in
eine ästhetische umzubilden?

Man sieht: von jenen Einwänden tragen die beiden ersten die Widerlegung
in sich selber. Gegründeter dagegen scheint der dritte, zudem hängt er mit dem
eigenthümlichen Wesen der modernen Kunst genau zusammen. Es handelt sich
hier von dem neuen Inhalt des Bewußtseins, den das 19. Jahrhundert ge¬
wonnen hat, und es ist kein Zweifel, daß die Kunst, ebenso sehr als das Le¬
ben und die Wissenschaft, das Recht hat, denselben aufzunehmen und in ihrer
Weise auszudrücken. Das Verständniß der Geschichte, das dem Menschen diese
Welt als die freie Stätte seines Geistes aufklärt, hat sich ihm nun erst in sei¬
ner ganzen Tiefe erschlossen; und während er einerseits die neuen Ergebnisse der
geschichtlichen Denkweise im öffentlichen Leben zu verwerthen und so einen na¬
tionalen Gewinn aus ihnen zu ziehen sucht, hofft er anderseits von derselben
eine Neubelebung der Kunst nicht blos dem Inhalte, sondern auch der Form
nach. Jene, die Kunst, tritt somit zugleich in ein neues Reich des Geistes und
auf einen frisch sich bildenden nationalen Boden. Das Bewußtsein hat von
der Vergangenheit als seinem Eigenthum Besitz ergriffen; die Vortheile,
welche die Malerei von diesem unendlichen Erwerb zu hoffen hat, sind
oft genug aufgezählt worden, ja die Kritik hat den Anbruch einer neuen
Aera für die Kunst verkündet und dieser im Voraus klar und bestimmt das
Ziel gezeigt, an dem eine neue volle Blüthe ihrer warte.

Wir wiederholen ebensowenig die Bedenken, welche als die Kehrseite der
neuen Hoffnungen von der Wissenschaft selber sind erhoben worden: den mi߬
lichen Durchgang, den die künstlerische Production durch eine mühsame Verstandes¬
arbeit zu nehmen hat, die Gefahr im Costüm und in den Nebendingen stecken
zu bleiben, ohne zum Ausdruck des geistigen Lebens durchzudrängen; endlich die
Schwierigkeit, die Breite des Geschehens in den Rahmen einer klaren und ge¬
schlossenen Darstellung zu dringen und den erhöhten Moment des schlagenden
Zusammentreffens der Gegensätze festzuhalten, ohne in ein theatralisches Pa¬
thos zu gerathen. Alle diese Hindernisse werden die Auffassung und die Hand
des Künstlers überwinden, wenn erst der geschichtliche Stoff zum freien Eigen-


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aus den Mustern der Kunst abgezogene Regel überliefert, welche unbewußt auch
in der Anschauung des reiferen Alters immer wieder anklingt. Ist er origi¬
nell, indem er die gründliche Durchbildung nach jenen Mustern von sich ab¬
lehnt, dagegen der Macht halber Eindrücke unwillkürlich unterliegt, und würde
ihm nicht vielmehr die tiefere aus eigener Arbeit erworbene Kenntniß die volle
Freiheit der Phantasie zurückgeben? Und glaubt er die Bedingungen seiner
Kunst leichter ebensowohl lernen, als lehren zu können, indem er absichtlich um
die vollendete Form sich nicht kümmert, in welcher sie von der Geschichte dem
empfänglichen Auge übergeben wird? Indem er mit unzulänglichen Mitteln und
ungeübten Kräften es allein aus sich selber unternimmt, die wirkliche Natur in
eine ästhetische umzubilden?

Man sieht: von jenen Einwänden tragen die beiden ersten die Widerlegung
in sich selber. Gegründeter dagegen scheint der dritte, zudem hängt er mit dem
eigenthümlichen Wesen der modernen Kunst genau zusammen. Es handelt sich
hier von dem neuen Inhalt des Bewußtseins, den das 19. Jahrhundert ge¬
wonnen hat, und es ist kein Zweifel, daß die Kunst, ebenso sehr als das Le¬
ben und die Wissenschaft, das Recht hat, denselben aufzunehmen und in ihrer
Weise auszudrücken. Das Verständniß der Geschichte, das dem Menschen diese
Welt als die freie Stätte seines Geistes aufklärt, hat sich ihm nun erst in sei¬
ner ganzen Tiefe erschlossen; und während er einerseits die neuen Ergebnisse der
geschichtlichen Denkweise im öffentlichen Leben zu verwerthen und so einen na¬
tionalen Gewinn aus ihnen zu ziehen sucht, hofft er anderseits von derselben
eine Neubelebung der Kunst nicht blos dem Inhalte, sondern auch der Form
nach. Jene, die Kunst, tritt somit zugleich in ein neues Reich des Geistes und
auf einen frisch sich bildenden nationalen Boden. Das Bewußtsein hat von
der Vergangenheit als seinem Eigenthum Besitz ergriffen; die Vortheile,
welche die Malerei von diesem unendlichen Erwerb zu hoffen hat, sind
oft genug aufgezählt worden, ja die Kritik hat den Anbruch einer neuen
Aera für die Kunst verkündet und dieser im Voraus klar und bestimmt das
Ziel gezeigt, an dem eine neue volle Blüthe ihrer warte.

Wir wiederholen ebensowenig die Bedenken, welche als die Kehrseite der
neuen Hoffnungen von der Wissenschaft selber sind erhoben worden: den mi߬
lichen Durchgang, den die künstlerische Production durch eine mühsame Verstandes¬
arbeit zu nehmen hat, die Gefahr im Costüm und in den Nebendingen stecken
zu bleiben, ohne zum Ausdruck des geistigen Lebens durchzudrängen; endlich die
Schwierigkeit, die Breite des Geschehens in den Rahmen einer klaren und ge¬
schlossenen Darstellung zu dringen und den erhöhten Moment des schlagenden
Zusammentreffens der Gegensätze festzuhalten, ohne in ein theatralisches Pa¬
thos zu gerathen. Alle diese Hindernisse werden die Auffassung und die Hand
des Künstlers überwinden, wenn erst der geschichtliche Stoff zum freien Eigen-


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 21, 1862, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341795_113779/171>, abgerufen am 08.01.2025.