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Die Grenzboten. Jg. 21, 1862, I. Semester. II. Band.

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erobern wollte, während die andere Hälfte mit denselben Waffen das einmal
Erworbene vertheidigte. Diese Unruhe war durch das Warten noch gesteigert,
sie war zu übermüthiger Ausgelassenheit geworden. Hier vertrieben sich zahl¬
reiche Gruppen durch Händeklatschen nach einförmigen Takte die Zeit. Dort
schlugen leichtfertige Buben andern nichts Arges ahnenden Festgenossen den Tur¬
ban von den zur Feier frisch rasirten Köpfen: ein Vergnügen, das hier und da
der leidende Theil nicht in dem Sinne des Handelnden auffaßte, so daß es bittre
Worte und Raufereien setzte. Endlich wo, immer jerusalemer oder überhaupt
arabische Christen sich in der Zahl von 6 oder 7 zusammenfanden, da wurde
und ohrenzerreißendem Geschrei der alt-einheimische Auferstehungsvers vorge¬
tragen, welchen, da er nicht so lang ist wie ein P. Gerhard'sches Passionslied,
ich hier mittheilen zu dürfen glaube:


[Beginn Spaltensatz] blas, Kahn' seMris,,
ach'A-1-!6 na aMäug,
el iriössitr aä^na
bidewu LeutaiMg,
innren-1-Mu tarlmim
va-l-jelrucl Irg>/g,rin [Spaltenumbruch] Unsers Meisters Grab ist hier,
seinen Festtag feiern wir,
der mit seinem Blute
uns erlöst, der Gute.
Wir sind heute freudig,
und die Juden leidig. [Ende Spaltensatz]

Dieser jerusalemer Poesie in der doppelten Eigenschaft, der Einfachheit und
Geschmacklosigkeit, die Palme streitig zu machen, dürfte verwandten Productionen
schwer fallen. Doch ist die Melodie des Textes würdig. Die herkömmliche
Vortragsweise hat einige Eigenthümlichkeit. Die Theilnehmer stellen sich zunächst,
wo möglich in der Nähe argloser Fremdlinge, in dichtem Kreise, die Gesichter
gegen einander gewandt, zusammen. Dann auf ein gegebenes Zeichen intoniren
sie plötzlich mit schmetternder Kehle ihr "Irg,ela" u. s. w. und erobern gleichzeitig
mit dem abgewandten Theile ihrer Körper von den bestürzt zurückweichenden
Umstehenden so viel Raum, um mit dem Kopfe und Oberleibe in convergirender
heftiger Bewegung den Takt angeben zu können. Man fragt sich bei solchen
Scenen vergeblich, was noch ungraciöser sei, der Gesang oder die ihn begleitende
Mimik.

Bewundernswerth war dabei die Haltung des türkischen Militärs, welches,
von dem Gewühl umwickelt, weder von den Stößen der sich neckenden Jugend,
noch von der angedeuteten Angriffswaffe der Sänger verschont blieb. Man sah
es den Mienen an. daß das unleugbare Ungemach wesentlich von der humo¬
ristischen Seite aufgefaßt wurde. Nur ein übermüthiger Bursch, welcher seinen
Kopf in sinistrer Absicht durch die Säbelbeine eines Musketiers hatte durch¬
zwingen wollen, wurde von dem nahen Offizier mit wohlverdienten Gcnick-
stößen entfernt. Freilich hat diese Truppe, und sie ist sich dessen bewußt, nicht
sowohl eine polizeiliche als eine politische Mission, nämlich einen Ausbruch von
Feindseligkeiten zwischen den feiernden Nationen zu verhindern. Nur zu diesem


erobern wollte, während die andere Hälfte mit denselben Waffen das einmal
Erworbene vertheidigte. Diese Unruhe war durch das Warten noch gesteigert,
sie war zu übermüthiger Ausgelassenheit geworden. Hier vertrieben sich zahl¬
reiche Gruppen durch Händeklatschen nach einförmigen Takte die Zeit. Dort
schlugen leichtfertige Buben andern nichts Arges ahnenden Festgenossen den Tur¬
ban von den zur Feier frisch rasirten Köpfen: ein Vergnügen, das hier und da
der leidende Theil nicht in dem Sinne des Handelnden auffaßte, so daß es bittre
Worte und Raufereien setzte. Endlich wo, immer jerusalemer oder überhaupt
arabische Christen sich in der Zahl von 6 oder 7 zusammenfanden, da wurde
und ohrenzerreißendem Geschrei der alt-einheimische Auferstehungsvers vorge¬
tragen, welchen, da er nicht so lang ist wie ein P. Gerhard'sches Passionslied,
ich hier mittheilen zu dürfen glaube:


[Beginn Spaltensatz] blas, Kahn' seMris,,
ach'A-1-!6 na aMäug,
el iriössitr aä^na
bidewu LeutaiMg,
innren-1-Mu tarlmim
va-l-jelrucl Irg>/g,rin [Spaltenumbruch] Unsers Meisters Grab ist hier,
seinen Festtag feiern wir,
der mit seinem Blute
uns erlöst, der Gute.
Wir sind heute freudig,
und die Juden leidig. [Ende Spaltensatz]

Dieser jerusalemer Poesie in der doppelten Eigenschaft, der Einfachheit und
Geschmacklosigkeit, die Palme streitig zu machen, dürfte verwandten Productionen
schwer fallen. Doch ist die Melodie des Textes würdig. Die herkömmliche
Vortragsweise hat einige Eigenthümlichkeit. Die Theilnehmer stellen sich zunächst,
wo möglich in der Nähe argloser Fremdlinge, in dichtem Kreise, die Gesichter
gegen einander gewandt, zusammen. Dann auf ein gegebenes Zeichen intoniren
sie plötzlich mit schmetternder Kehle ihr „Irg,ela" u. s. w. und erobern gleichzeitig
mit dem abgewandten Theile ihrer Körper von den bestürzt zurückweichenden
Umstehenden so viel Raum, um mit dem Kopfe und Oberleibe in convergirender
heftiger Bewegung den Takt angeben zu können. Man fragt sich bei solchen
Scenen vergeblich, was noch ungraciöser sei, der Gesang oder die ihn begleitende
Mimik.

Bewundernswerth war dabei die Haltung des türkischen Militärs, welches,
von dem Gewühl umwickelt, weder von den Stößen der sich neckenden Jugend,
noch von der angedeuteten Angriffswaffe der Sänger verschont blieb. Man sah
es den Mienen an. daß das unleugbare Ungemach wesentlich von der humo¬
ristischen Seite aufgefaßt wurde. Nur ein übermüthiger Bursch, welcher seinen
Kopf in sinistrer Absicht durch die Säbelbeine eines Musketiers hatte durch¬
zwingen wollen, wurde von dem nahen Offizier mit wohlverdienten Gcnick-
stößen entfernt. Freilich hat diese Truppe, und sie ist sich dessen bewußt, nicht
sowohl eine polizeiliche als eine politische Mission, nämlich einen Ausbruch von
Feindseligkeiten zwischen den feiernden Nationen zu verhindern. Nur zu diesem


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 21, 1862, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341795_113779/136>, abgerufen am 08.01.2025.