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Die Grenzboten. Jg. 21, 1862, I. Semester. I. Band.

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Wo wir den Ausdruck individueller Empfindung erwarten, befriedigte eine
Variation der zahlreichen stehenden Phrasen; während wir zumeist erfreut werden
durch die Aeußerungen origineller Kraft und am liebsten tüchtige Eigenthümlich¬
keit bewundern, sobald sie durch gute Sitte und humane Bildung geadelt ist, war
es vor hundert Jahren das studirte Einschmiegen der Persönlichkeit in die gegebene
Situation, was man von dem Gebildeten förderte. Selbst der ernste Gelehrte, der
würdevolle Geistliche überlegten sich in stiller Arbeitsstube die Bewegungen
ihrer Hand, den Tonfall ihrer Stimme, womit sie bei einem wichtigen Besuch
Wirkungen hervorbringen wollten. Und wie die Tracht, Schuhe, Strümpfe,
Kniehosen, das gestickte Kleid, das Spitzenband. der niedrige Hut, vor Allem
die Kvpftracht, Perücke und Puder, feine kleine Zierlichkeit, kurze Bewegun¬
gen, ein zierliches Andenken begünstigte, so wirkte auch die vorsichtige rücksichts¬
volle Sprache, ein reicher Fluß von artigen Redensarten, die feststehenden
vorgeschriebenen Formen des Lebens dahin, den Einzelnen dem Gesetze einer
kunstvollen Höflichkeit zu unterwerfen. Genau hielt man auf alle Formen,
jede Abweichung von dem Hergebrachten hatte Mühe, sich zu motiviren
und zu rechtfertigen. Es ist offenbar, daß solche Volksbildung der Kunst des
Schauspielers ein Interesse entgegenbrachte, welches unserem Publicum fehlt,
aber auch eine Vorschule gewährte, welche wir in dieser Art nicht mehr be-
bcsitzen. Bei jeder Scene, welche auf der Bühne dargestellt wurde, war der
dramatische Inhalt, vollends der poetische Kunstwerth, gar nicht die Haupt-
sache, sondern das gesellschaftliche Gebühren der Personen gegen einander.
Auch in gleichgültiger Situation mußte das Talent des Darstellers eine reiche
Fülle von interessantem Detail hineinzutragen. Seine Aufgabe war, charak¬
teristische Züge seiner Rollen unter dem Zwange der Convenienz und der festen
Tradition liebevoll anzudeuten, und mit Dankbarkeit und einem im Ganzen
sehr guten Verständniß erfaßte Mich .das gewöhnliche Publicum die feinen
Schattirungen. Ein Bewegen der Fußspitze, das Erheben eines Fingers, ein un¬
gewöhnlicher Tonfall der Stimme vermochten die größte Wirkung hervorzubnngen
und wie un Leben die Scheu vor dem Lächerlichen und Unschicklichen, d. h. Nicht-
Conventionellen, fast krankhaft ausgebildet war, so war auch der Sinn sür
das Komische und das Behagen an dem Unfertigen der Erscheinung vor der
Bühne lebhaft entwickelt.

Dazu kam ein anderer Umstand, der die alte Kunst der Darsteller von
der neuen fast noch mehr unterscheidet. Der Schauspieler stellte damals in
einem Raume dar, der so Nein war. daß die zartesten Accente seiner Sprache,
die leisesten Nuancen in Stellung und Geberde auch in dem entferntesten
Theile des Hauses vollständig verstanden wurden. Auch er war in der Lage,
sein Organ kunstmäßig ausbilden zu müssen, zur deutlichen und dialektfreien
Sprache -- die besseren Schauspieler wären damals wahrscheinlich die einzigen


Wo wir den Ausdruck individueller Empfindung erwarten, befriedigte eine
Variation der zahlreichen stehenden Phrasen; während wir zumeist erfreut werden
durch die Aeußerungen origineller Kraft und am liebsten tüchtige Eigenthümlich¬
keit bewundern, sobald sie durch gute Sitte und humane Bildung geadelt ist, war
es vor hundert Jahren das studirte Einschmiegen der Persönlichkeit in die gegebene
Situation, was man von dem Gebildeten förderte. Selbst der ernste Gelehrte, der
würdevolle Geistliche überlegten sich in stiller Arbeitsstube die Bewegungen
ihrer Hand, den Tonfall ihrer Stimme, womit sie bei einem wichtigen Besuch
Wirkungen hervorbringen wollten. Und wie die Tracht, Schuhe, Strümpfe,
Kniehosen, das gestickte Kleid, das Spitzenband. der niedrige Hut, vor Allem
die Kvpftracht, Perücke und Puder, feine kleine Zierlichkeit, kurze Bewegun¬
gen, ein zierliches Andenken begünstigte, so wirkte auch die vorsichtige rücksichts¬
volle Sprache, ein reicher Fluß von artigen Redensarten, die feststehenden
vorgeschriebenen Formen des Lebens dahin, den Einzelnen dem Gesetze einer
kunstvollen Höflichkeit zu unterwerfen. Genau hielt man auf alle Formen,
jede Abweichung von dem Hergebrachten hatte Mühe, sich zu motiviren
und zu rechtfertigen. Es ist offenbar, daß solche Volksbildung der Kunst des
Schauspielers ein Interesse entgegenbrachte, welches unserem Publicum fehlt,
aber auch eine Vorschule gewährte, welche wir in dieser Art nicht mehr be-
bcsitzen. Bei jeder Scene, welche auf der Bühne dargestellt wurde, war der
dramatische Inhalt, vollends der poetische Kunstwerth, gar nicht die Haupt-
sache, sondern das gesellschaftliche Gebühren der Personen gegen einander.
Auch in gleichgültiger Situation mußte das Talent des Darstellers eine reiche
Fülle von interessantem Detail hineinzutragen. Seine Aufgabe war, charak¬
teristische Züge seiner Rollen unter dem Zwange der Convenienz und der festen
Tradition liebevoll anzudeuten, und mit Dankbarkeit und einem im Ganzen
sehr guten Verständniß erfaßte Mich .das gewöhnliche Publicum die feinen
Schattirungen. Ein Bewegen der Fußspitze, das Erheben eines Fingers, ein un¬
gewöhnlicher Tonfall der Stimme vermochten die größte Wirkung hervorzubnngen
und wie un Leben die Scheu vor dem Lächerlichen und Unschicklichen, d. h. Nicht-
Conventionellen, fast krankhaft ausgebildet war, so war auch der Sinn sür
das Komische und das Behagen an dem Unfertigen der Erscheinung vor der
Bühne lebhaft entwickelt.

Dazu kam ein anderer Umstand, der die alte Kunst der Darsteller von
der neuen fast noch mehr unterscheidet. Der Schauspieler stellte damals in
einem Raume dar, der so Nein war. daß die zartesten Accente seiner Sprache,
die leisesten Nuancen in Stellung und Geberde auch in dem entferntesten
Theile des Hauses vollständig verstanden wurden. Auch er war in der Lage,
sein Organ kunstmäßig ausbilden zu müssen, zur deutlichen und dialektfreien
Sprache — die besseren Schauspieler wären damals wahrscheinlich die einzigen


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 21, 1862, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341795_113241/80>, abgerufen am 28.12.2024.