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Die Grenzboten. Jg. 21, 1862, I. Semester. I. Band.

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Bundesgenossen, welche er bei diesem stillen Streite hat, und doch hat seine
Arbeit gerade jetzt die höchste Berechtigung, denn wie die Sachen bei uns in
Deutschland liegen, ist die Schauspielkunst trotz den zahlreichen Theatern und
der Theilnahme eines großen Publicums immer noch von allen Künsten die,
deren Lebensbedingungen am wenigsten verstanden werden, und für deren
Gedeihen die gesammte Strömung des geistigen Lebens in Deutschland seit
dem Anfang dieses Jahrhunderts besonders ungünstig war. Und wenn ihm,
dem reformirenden Künstler, ziemt, das Widerwärtige der einzelnen Erschei¬
nungen hervorzuheben, so wird uns verziehen werden, daß wir das Un¬
genügende des gegenwärtigen Kunstlebens aus den Fortschritten der deutschen
Bildung zu erklären suchen.

Wenn wir die Kunst der großen Schauspieler des vorigen Jahrhunderts,
der Eckhof, Schröder, rühmen, so denken wir selten daran, wie abweichend
die Verhältnisse, unter denen sie schufen, von dem Leben unserer Zeit waren.
Devrient hat in den frühern Bänden feines Werkes gut hervorgehoben, daß die
höchste Blüthe der Schauspielkunst mit der höchsten Blüthe deutscher Poesie
nicht zusammenfällt, sondern ihr vorausgeht. Sie liegt in der Zeit, in welcher
die besten Mitglieder der damaligen Wandertruppen von dem Segen der jun¬
gen Aufklärung ihren Theil erhielten, wo sich in Opposition gegen die wüste
Wirthschaft der alten Stegreifkomödie Bedürfniß nach Ordnung, Zucht, ern¬
stem Studium entwickelte. Als Eckhof herauf kam, gab es noch keine dra¬
matische Poesie und keine Herrschaft der Dichter, welche die Schauspielkunst
eingeengt hätte. Die flache Zeichnung und der unbedeutende poetische Werth
in den Lustspielen, so wie die tönenden Phrasen der Alexandriner-Tragödie
gewährten dem Darsteller gegenüber der Arbeit des Schriftstellers eine große
Freiheit und das erhebende Gefühl, daß erst er es war. welcher dem Leb¬
losen Farbe. Leben und Reiz gab. Für uns wären die alten Stücke in der
Mehrzahl nicht mehr anzusehen, und unsere Schauspieler vermöchte" sie nicht
mehr zu spielen, denn das Interesse, welches Publicum und Schauspieler an
der darzustellenden Handlung nahmen, war damals ein anderes, als es jetzt
zu sein pflegt.

Um das zu verstellen, muß man sich einige Eigenthümlichkeiten jener alten
Bildung in das Gedächtniß zurückrufen. In Eckhof's Jugend, vor etwa Huri-
dert Jahren, waren die Menschen auch im täglichen Leben weit mehr Schau¬
spieler, als uns erträglich fein würde. Sie waren gewöhnt, die eigene äußere
Erscheinung und die anderer Menschen in allen Momenten der Geselligkeit
weit sorgfältiger und skrupulöser zu beobachten, als wir. Kleidung und Hal¬
tung, der Fall der Rede, die kleinen Bewegungen des Körpers wurden mit
Sorgfalt gewählt und erst nach einem gewissen stillen Studium vor anoeren
Menschen geltend gemacht. Geringer war der Reichthum des inneren Lebens.


Bundesgenossen, welche er bei diesem stillen Streite hat, und doch hat seine
Arbeit gerade jetzt die höchste Berechtigung, denn wie die Sachen bei uns in
Deutschland liegen, ist die Schauspielkunst trotz den zahlreichen Theatern und
der Theilnahme eines großen Publicums immer noch von allen Künsten die,
deren Lebensbedingungen am wenigsten verstanden werden, und für deren
Gedeihen die gesammte Strömung des geistigen Lebens in Deutschland seit
dem Anfang dieses Jahrhunderts besonders ungünstig war. Und wenn ihm,
dem reformirenden Künstler, ziemt, das Widerwärtige der einzelnen Erschei¬
nungen hervorzuheben, so wird uns verziehen werden, daß wir das Un¬
genügende des gegenwärtigen Kunstlebens aus den Fortschritten der deutschen
Bildung zu erklären suchen.

Wenn wir die Kunst der großen Schauspieler des vorigen Jahrhunderts,
der Eckhof, Schröder, rühmen, so denken wir selten daran, wie abweichend
die Verhältnisse, unter denen sie schufen, von dem Leben unserer Zeit waren.
Devrient hat in den frühern Bänden feines Werkes gut hervorgehoben, daß die
höchste Blüthe der Schauspielkunst mit der höchsten Blüthe deutscher Poesie
nicht zusammenfällt, sondern ihr vorausgeht. Sie liegt in der Zeit, in welcher
die besten Mitglieder der damaligen Wandertruppen von dem Segen der jun¬
gen Aufklärung ihren Theil erhielten, wo sich in Opposition gegen die wüste
Wirthschaft der alten Stegreifkomödie Bedürfniß nach Ordnung, Zucht, ern¬
stem Studium entwickelte. Als Eckhof herauf kam, gab es noch keine dra¬
matische Poesie und keine Herrschaft der Dichter, welche die Schauspielkunst
eingeengt hätte. Die flache Zeichnung und der unbedeutende poetische Werth
in den Lustspielen, so wie die tönenden Phrasen der Alexandriner-Tragödie
gewährten dem Darsteller gegenüber der Arbeit des Schriftstellers eine große
Freiheit und das erhebende Gefühl, daß erst er es war. welcher dem Leb¬
losen Farbe. Leben und Reiz gab. Für uns wären die alten Stücke in der
Mehrzahl nicht mehr anzusehen, und unsere Schauspieler vermöchte« sie nicht
mehr zu spielen, denn das Interesse, welches Publicum und Schauspieler an
der darzustellenden Handlung nahmen, war damals ein anderes, als es jetzt
zu sein pflegt.

Um das zu verstellen, muß man sich einige Eigenthümlichkeiten jener alten
Bildung in das Gedächtniß zurückrufen. In Eckhof's Jugend, vor etwa Huri-
dert Jahren, waren die Menschen auch im täglichen Leben weit mehr Schau¬
spieler, als uns erträglich fein würde. Sie waren gewöhnt, die eigene äußere
Erscheinung und die anderer Menschen in allen Momenten der Geselligkeit
weit sorgfältiger und skrupulöser zu beobachten, als wir. Kleidung und Hal¬
tung, der Fall der Rede, die kleinen Bewegungen des Körpers wurden mit
Sorgfalt gewählt und erst nach einem gewissen stillen Studium vor anoeren
Menschen geltend gemacht. Geringer war der Reichthum des inneren Lebens.


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[0079] Bundesgenossen, welche er bei diesem stillen Streite hat, und doch hat seine Arbeit gerade jetzt die höchste Berechtigung, denn wie die Sachen bei uns in Deutschland liegen, ist die Schauspielkunst trotz den zahlreichen Theatern und der Theilnahme eines großen Publicums immer noch von allen Künsten die, deren Lebensbedingungen am wenigsten verstanden werden, und für deren Gedeihen die gesammte Strömung des geistigen Lebens in Deutschland seit dem Anfang dieses Jahrhunderts besonders ungünstig war. Und wenn ihm, dem reformirenden Künstler, ziemt, das Widerwärtige der einzelnen Erschei¬ nungen hervorzuheben, so wird uns verziehen werden, daß wir das Un¬ genügende des gegenwärtigen Kunstlebens aus den Fortschritten der deutschen Bildung zu erklären suchen. Wenn wir die Kunst der großen Schauspieler des vorigen Jahrhunderts, der Eckhof, Schröder, rühmen, so denken wir selten daran, wie abweichend die Verhältnisse, unter denen sie schufen, von dem Leben unserer Zeit waren. Devrient hat in den frühern Bänden feines Werkes gut hervorgehoben, daß die höchste Blüthe der Schauspielkunst mit der höchsten Blüthe deutscher Poesie nicht zusammenfällt, sondern ihr vorausgeht. Sie liegt in der Zeit, in welcher die besten Mitglieder der damaligen Wandertruppen von dem Segen der jun¬ gen Aufklärung ihren Theil erhielten, wo sich in Opposition gegen die wüste Wirthschaft der alten Stegreifkomödie Bedürfniß nach Ordnung, Zucht, ern¬ stem Studium entwickelte. Als Eckhof herauf kam, gab es noch keine dra¬ matische Poesie und keine Herrschaft der Dichter, welche die Schauspielkunst eingeengt hätte. Die flache Zeichnung und der unbedeutende poetische Werth in den Lustspielen, so wie die tönenden Phrasen der Alexandriner-Tragödie gewährten dem Darsteller gegenüber der Arbeit des Schriftstellers eine große Freiheit und das erhebende Gefühl, daß erst er es war. welcher dem Leb¬ losen Farbe. Leben und Reiz gab. Für uns wären die alten Stücke in der Mehrzahl nicht mehr anzusehen, und unsere Schauspieler vermöchte« sie nicht mehr zu spielen, denn das Interesse, welches Publicum und Schauspieler an der darzustellenden Handlung nahmen, war damals ein anderes, als es jetzt zu sein pflegt. Um das zu verstellen, muß man sich einige Eigenthümlichkeiten jener alten Bildung in das Gedächtniß zurückrufen. In Eckhof's Jugend, vor etwa Huri- dert Jahren, waren die Menschen auch im täglichen Leben weit mehr Schau¬ spieler, als uns erträglich fein würde. Sie waren gewöhnt, die eigene äußere Erscheinung und die anderer Menschen in allen Momenten der Geselligkeit weit sorgfältiger und skrupulöser zu beobachten, als wir. Kleidung und Hal¬ tung, der Fall der Rede, die kleinen Bewegungen des Körpers wurden mit Sorgfalt gewählt und erst nach einem gewissen stillen Studium vor anoeren Menschen geltend gemacht. Geringer war der Reichthum des inneren Lebens.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 21, 1862, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341795_113241/79>, abgerufen am 29.06.2024.