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Die Grenzboten. Jg. 21, 1862, I. Semester. I. Band.

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russischen Einfluß in Konstantinopel ankämpfte, dabei zugleich aber bemüht war
durch Beschulung des'Vicekömgs die Situation zu seinem besondern Vortheile
auszubeuten. Ein widerspruchsvolles, unklares, den schlimmsten Verdacht
herausforderndes Verfahren war es, zugleich den Sultan gegen Nußland und
den Pascha gegen den Sultan schützen zu wollen. Wollte Frankreich für seinen
Schützling Mehemed Ali in die Schranken treten, so mußte es den Versuch
machen, bor Allem Nußland für seine Pläne zu gewinnen; es mußte Nußland
zu bewegen suchen, die Rolle des Beschützers der Pforte aufzugeben und sich
mit dem Vicekönig und Frankreich gegen den Sultan und halb Europa zu
verbünden. Hätte dieser Versuch aber irgend eine Aussicht auf Erfolg gehabt?
Würde Nußland, welches von seiner Protectorrolle zwar langsame, aber sichere
Erfolge erwarten konnte, aus ungeduldiger Beutelust seine europäischen Allianzen
den zweifelhaften Erfolgen eines abenteuerlichen Unternehmens gegen die Türkei
aufgeopfert haben? Würde der Kaiser Nikolaus damals, wo ihn sein Alter noch
nicht, wie 20 Jahre später, zur Eile trieb, wo die Verhältnisse ihn darauf an¬
wiesen, die weitgreifenden russischen Pläne auf breiten und sicheren Grund¬
lagen vorzubereiten und in imposanter Ruhe den geeigneten Augenblick zur Aus¬
führung abzuwarten, durch eine zweifelhafte Aussicht auf raschen und glänzen¬
den Erfolg sich zu einer verwegenen Politik, die seinem Charakter durchaus nicht
entsprach, haben bestimmen lassen? Gewiß nicht. Indem die französische revo¬
lutionäre Geschichtschreibung es tadelt, daß die Regierung Ludwig Philipps
sich nicht auf derartige und andere noch viel ungeheuerlichere und bodenlosere
Combinationen eingelassen hat, verräth sie eine völlige Unkenntniß der dama¬
ligen Verhältnisse und Personen. Geht Louis Blanc doch so weit, dem Könige
Friedrich Wilhelm dem Dritten eine wichtige Rolle in seinem revolutionären Welt-
thcilungsplane zuzuweisen! Daß die französischen Staatsmänner an ein der¬
artiges Vorgehen nicht dachten, ist selbstverständlich und um so natürlicher, da
ihre Politik auf der Allianze mit England begründet war. Unter diesen Um¬
ständen war es aber eine Unklugheit, sich von der allgemeinen europäischen Auf¬
fassung der Frage zu trennen, und um einer höchst unsicheren Aussicht willen
das englische Bündniß aufs Spiel zu setzen. Auch Guizot kann nicht umhin,
die französische Politik in der ägyptischen Frage bedenklich unklar zu finden.
Doch ist es unzweifelhaft, daß er selbst im entscheidenden Augenblick auf dem¬
selben Standpunkte gestanden und die Illusionen der übrigen französischen
Politiker getheilt hat. Wenn Guizot den Hauptgrund zu der damaligen fran¬
zösischen Politik in den auf den Erinnerungen der bonapartischen Expedition
beruhenden populären Sympathien für Aegypten und Mehemed Ali sucht, so
liegt in dieser Entschuldigung selbst wieder ein anderer schwerer Tadel enthal¬
ten, ohne daß es ihm jedoch gelingt, den unbefangenem Leser zu überzeugen,
daß der Vorwurf einer absichtlich zweideutigen, dabei aber falsch berechnenden


russischen Einfluß in Konstantinopel ankämpfte, dabei zugleich aber bemüht war
durch Beschulung des'Vicekömgs die Situation zu seinem besondern Vortheile
auszubeuten. Ein widerspruchsvolles, unklares, den schlimmsten Verdacht
herausforderndes Verfahren war es, zugleich den Sultan gegen Nußland und
den Pascha gegen den Sultan schützen zu wollen. Wollte Frankreich für seinen
Schützling Mehemed Ali in die Schranken treten, so mußte es den Versuch
machen, bor Allem Nußland für seine Pläne zu gewinnen; es mußte Nußland
zu bewegen suchen, die Rolle des Beschützers der Pforte aufzugeben und sich
mit dem Vicekönig und Frankreich gegen den Sultan und halb Europa zu
verbünden. Hätte dieser Versuch aber irgend eine Aussicht auf Erfolg gehabt?
Würde Nußland, welches von seiner Protectorrolle zwar langsame, aber sichere
Erfolge erwarten konnte, aus ungeduldiger Beutelust seine europäischen Allianzen
den zweifelhaften Erfolgen eines abenteuerlichen Unternehmens gegen die Türkei
aufgeopfert haben? Würde der Kaiser Nikolaus damals, wo ihn sein Alter noch
nicht, wie 20 Jahre später, zur Eile trieb, wo die Verhältnisse ihn darauf an¬
wiesen, die weitgreifenden russischen Pläne auf breiten und sicheren Grund¬
lagen vorzubereiten und in imposanter Ruhe den geeigneten Augenblick zur Aus¬
führung abzuwarten, durch eine zweifelhafte Aussicht auf raschen und glänzen¬
den Erfolg sich zu einer verwegenen Politik, die seinem Charakter durchaus nicht
entsprach, haben bestimmen lassen? Gewiß nicht. Indem die französische revo¬
lutionäre Geschichtschreibung es tadelt, daß die Regierung Ludwig Philipps
sich nicht auf derartige und andere noch viel ungeheuerlichere und bodenlosere
Combinationen eingelassen hat, verräth sie eine völlige Unkenntniß der dama¬
ligen Verhältnisse und Personen. Geht Louis Blanc doch so weit, dem Könige
Friedrich Wilhelm dem Dritten eine wichtige Rolle in seinem revolutionären Welt-
thcilungsplane zuzuweisen! Daß die französischen Staatsmänner an ein der¬
artiges Vorgehen nicht dachten, ist selbstverständlich und um so natürlicher, da
ihre Politik auf der Allianze mit England begründet war. Unter diesen Um¬
ständen war es aber eine Unklugheit, sich von der allgemeinen europäischen Auf¬
fassung der Frage zu trennen, und um einer höchst unsicheren Aussicht willen
das englische Bündniß aufs Spiel zu setzen. Auch Guizot kann nicht umhin,
die französische Politik in der ägyptischen Frage bedenklich unklar zu finden.
Doch ist es unzweifelhaft, daß er selbst im entscheidenden Augenblick auf dem¬
selben Standpunkte gestanden und die Illusionen der übrigen französischen
Politiker getheilt hat. Wenn Guizot den Hauptgrund zu der damaligen fran¬
zösischen Politik in den auf den Erinnerungen der bonapartischen Expedition
beruhenden populären Sympathien für Aegypten und Mehemed Ali sucht, so
liegt in dieser Entschuldigung selbst wieder ein anderer schwerer Tadel enthal¬
ten, ohne daß es ihm jedoch gelingt, den unbefangenem Leser zu überzeugen,
daß der Vorwurf einer absichtlich zweideutigen, dabei aber falsch berechnenden


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 21, 1862, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341795_113241/525>, abgerufen am 23.07.2024.