Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 21, 1862, I. Semester. I. Band.

Bild:
<< vorherige Seite

über eine von ihren anderweitigen Beziehungen unabhängige, bestimmte Stel¬
lung einzunehmen. Denn von Preußen abgesehen, das bei der Frage nur
mittelbar betheiligt war und keine Politik verfolgte, die es hätte bewegen kön¬
nen, die allgemeine Verwicklung zur Förderung seines besonderen Vortheils
zu benutzen, standen für die Großmächte die wichtigsten Interessen auf dem
Spiele. Indessen waren diese Interessen viel complicirter. als man es gewöhn¬
lich annimmt, und wir können gradezu behaupten, daß Frankreich, weil es
die Complication der Beziehungen verkannte, wiederholt zu einer falschen und
abenteuernden Politik getrieben ist und wiederholt auf dem schlüpfrigen Boden
der orientalischen Frage die empfindlichsten Niederlagen erlitten hat.

Der Conflict, der im Orient ausgebrochen war, zog deshalb besonders
die lebhafteste Aufmerksamkeit aller Mächte auf sich, weil zu befürchten war,
Nußland werde die Verlegenheiten des Sultans zu seinem eignen Vortheil
ausbeuten. Dies war die eigentlich europäische Seite der Frage. Wenn Eng¬
land und Oestreich die Erhaltung des türkischen Reiches als eine Lebensfrage
ansahen, so hatte dies ganz besonders darin seinen Grund, daß bei einer Zer¬
stückelung der Türkei keine der beiden Mächte einen Antheil an der Beute ge¬
winnen konnte, der entfernt dem Gewinne gleich gekommen wäre, den das da¬
mals übermächtige und im Innern unerschütterte, über alle Mittel seines weiten
Gebietes unbedingt verfügende Rußland aus dem Zerfalle des einst so mächtigen
Nachbarreiches gezogen haben würde. Es kam also darauf an, in gemeinsamer
Action ohne alle Hintergedanken die Türkei durch den Schutz des gesammten
Europa's zu decken. Die Eigenthümlichkeit der Situation lag aber darin, daß
Nußland an einen Angriff gegen den Sultan gar nicht dachte; sein Plan ging
vielmehr dahin, nicht die Pforte äußerlich zu schwächen oder ihr Verlegenheiten
zu bereiten, sondern den Einfluß der übrigen Mächte von Constantinopel fern
zu halten und an die Stelle eines europäischen ein ausschließlich russisches
Protectorat über den Sultan zu setzen. Es trat also der Fall ein, daß der alte
Feind der Pforte in der eifrigen Sorge für ihr Wohl mit den alten erprobten
Freunden des osmanischen Reiches wetteiferte. Vergeblich warnten die frem¬
den Diplomaten und einsichtigen Rathe der Pforte den Sultan vor den ge¬
heimen Plänen gegen das osmanische Reich, die Rußland unter dem Schein
des Schutzes verberge. Mahmud hörte nur auf die Stimme des leidenschaft¬
lichen Hasses gegen seinen übermächtigen Vasallen. "Was kümmert mich das
Reich?" rief er aus, "was kümmert mich Constantinopel? Ich würde Constan¬
tinopel und das Reich demjenigen geben, der mir den Kopf Mehemed Ali's
brächte."

Den russischen Plänen arbeitete nur Frankreich, ohne es zu wollen, in die
Hände. Es war eine eben so unbesonnene, wie haltlose Politik, wenn das
französische Cabinet zwar im Vereine mit den übrigen Mächten gegen den


über eine von ihren anderweitigen Beziehungen unabhängige, bestimmte Stel¬
lung einzunehmen. Denn von Preußen abgesehen, das bei der Frage nur
mittelbar betheiligt war und keine Politik verfolgte, die es hätte bewegen kön¬
nen, die allgemeine Verwicklung zur Förderung seines besonderen Vortheils
zu benutzen, standen für die Großmächte die wichtigsten Interessen auf dem
Spiele. Indessen waren diese Interessen viel complicirter. als man es gewöhn¬
lich annimmt, und wir können gradezu behaupten, daß Frankreich, weil es
die Complication der Beziehungen verkannte, wiederholt zu einer falschen und
abenteuernden Politik getrieben ist und wiederholt auf dem schlüpfrigen Boden
der orientalischen Frage die empfindlichsten Niederlagen erlitten hat.

Der Conflict, der im Orient ausgebrochen war, zog deshalb besonders
die lebhafteste Aufmerksamkeit aller Mächte auf sich, weil zu befürchten war,
Nußland werde die Verlegenheiten des Sultans zu seinem eignen Vortheil
ausbeuten. Dies war die eigentlich europäische Seite der Frage. Wenn Eng¬
land und Oestreich die Erhaltung des türkischen Reiches als eine Lebensfrage
ansahen, so hatte dies ganz besonders darin seinen Grund, daß bei einer Zer¬
stückelung der Türkei keine der beiden Mächte einen Antheil an der Beute ge¬
winnen konnte, der entfernt dem Gewinne gleich gekommen wäre, den das da¬
mals übermächtige und im Innern unerschütterte, über alle Mittel seines weiten
Gebietes unbedingt verfügende Rußland aus dem Zerfalle des einst so mächtigen
Nachbarreiches gezogen haben würde. Es kam also darauf an, in gemeinsamer
Action ohne alle Hintergedanken die Türkei durch den Schutz des gesammten
Europa's zu decken. Die Eigenthümlichkeit der Situation lag aber darin, daß
Nußland an einen Angriff gegen den Sultan gar nicht dachte; sein Plan ging
vielmehr dahin, nicht die Pforte äußerlich zu schwächen oder ihr Verlegenheiten
zu bereiten, sondern den Einfluß der übrigen Mächte von Constantinopel fern
zu halten und an die Stelle eines europäischen ein ausschließlich russisches
Protectorat über den Sultan zu setzen. Es trat also der Fall ein, daß der alte
Feind der Pforte in der eifrigen Sorge für ihr Wohl mit den alten erprobten
Freunden des osmanischen Reiches wetteiferte. Vergeblich warnten die frem¬
den Diplomaten und einsichtigen Rathe der Pforte den Sultan vor den ge¬
heimen Plänen gegen das osmanische Reich, die Rußland unter dem Schein
des Schutzes verberge. Mahmud hörte nur auf die Stimme des leidenschaft¬
lichen Hasses gegen seinen übermächtigen Vasallen. „Was kümmert mich das
Reich?" rief er aus, „was kümmert mich Constantinopel? Ich würde Constan¬
tinopel und das Reich demjenigen geben, der mir den Kopf Mehemed Ali's
brächte."

Den russischen Plänen arbeitete nur Frankreich, ohne es zu wollen, in die
Hände. Es war eine eben so unbesonnene, wie haltlose Politik, wenn das
französische Cabinet zwar im Vereine mit den übrigen Mächten gegen den


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0524" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/113766"/>
          <p xml:id="ID_1664" prev="#ID_1663"> über eine von ihren anderweitigen Beziehungen unabhängige, bestimmte Stel¬<lb/>
lung einzunehmen. Denn von Preußen abgesehen, das bei der Frage nur<lb/>
mittelbar betheiligt war und keine Politik verfolgte, die es hätte bewegen kön¬<lb/>
nen, die allgemeine Verwicklung zur Förderung seines besonderen Vortheils<lb/>
zu benutzen, standen für die Großmächte die wichtigsten Interessen auf dem<lb/>
Spiele. Indessen waren diese Interessen viel complicirter. als man es gewöhn¬<lb/>
lich annimmt, und wir können gradezu behaupten, daß Frankreich, weil es<lb/>
die Complication der Beziehungen verkannte, wiederholt zu einer falschen und<lb/>
abenteuernden Politik getrieben ist und wiederholt auf dem schlüpfrigen Boden<lb/>
der orientalischen Frage die empfindlichsten Niederlagen erlitten hat.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1665"> Der Conflict, der im Orient ausgebrochen war, zog deshalb besonders<lb/>
die lebhafteste Aufmerksamkeit aller Mächte auf sich, weil zu befürchten war,<lb/>
Nußland werde die Verlegenheiten des Sultans zu seinem eignen Vortheil<lb/>
ausbeuten. Dies war die eigentlich europäische Seite der Frage. Wenn Eng¬<lb/>
land und Oestreich die Erhaltung des türkischen Reiches als eine Lebensfrage<lb/>
ansahen, so hatte dies ganz besonders darin seinen Grund, daß bei einer Zer¬<lb/>
stückelung der Türkei keine der beiden Mächte einen Antheil an der Beute ge¬<lb/>
winnen konnte, der entfernt dem Gewinne gleich gekommen wäre, den das da¬<lb/>
mals übermächtige und im Innern unerschütterte, über alle Mittel seines weiten<lb/>
Gebietes unbedingt verfügende Rußland aus dem Zerfalle des einst so mächtigen<lb/>
Nachbarreiches gezogen haben würde. Es kam also darauf an, in gemeinsamer<lb/>
Action ohne alle Hintergedanken die Türkei durch den Schutz des gesammten<lb/>
Europa's zu decken. Die Eigenthümlichkeit der Situation lag aber darin, daß<lb/>
Nußland an einen Angriff gegen den Sultan gar nicht dachte; sein Plan ging<lb/>
vielmehr dahin, nicht die Pforte äußerlich zu schwächen oder ihr Verlegenheiten<lb/>
zu bereiten, sondern den Einfluß der übrigen Mächte von Constantinopel fern<lb/>
zu halten und an die Stelle eines europäischen ein ausschließlich russisches<lb/>
Protectorat über den Sultan zu setzen. Es trat also der Fall ein, daß der alte<lb/>
Feind der Pforte in der eifrigen Sorge für ihr Wohl mit den alten erprobten<lb/>
Freunden des osmanischen Reiches wetteiferte. Vergeblich warnten die frem¬<lb/>
den Diplomaten und einsichtigen Rathe der Pforte den Sultan vor den ge¬<lb/>
heimen Plänen gegen das osmanische Reich, die Rußland unter dem Schein<lb/>
des Schutzes verberge. Mahmud hörte nur auf die Stimme des leidenschaft¬<lb/>
lichen Hasses gegen seinen übermächtigen Vasallen. &#x201E;Was kümmert mich das<lb/>
Reich?" rief er aus, &#x201E;was kümmert mich Constantinopel? Ich würde Constan¬<lb/>
tinopel und das Reich demjenigen geben, der mir den Kopf Mehemed Ali's<lb/>
brächte."</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1666" next="#ID_1667"> Den russischen Plänen arbeitete nur Frankreich, ohne es zu wollen, in die<lb/>
Hände. Es war eine eben so unbesonnene, wie haltlose Politik, wenn das<lb/>
französische Cabinet zwar im Vereine mit den übrigen Mächten gegen den</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0524] über eine von ihren anderweitigen Beziehungen unabhängige, bestimmte Stel¬ lung einzunehmen. Denn von Preußen abgesehen, das bei der Frage nur mittelbar betheiligt war und keine Politik verfolgte, die es hätte bewegen kön¬ nen, die allgemeine Verwicklung zur Förderung seines besonderen Vortheils zu benutzen, standen für die Großmächte die wichtigsten Interessen auf dem Spiele. Indessen waren diese Interessen viel complicirter. als man es gewöhn¬ lich annimmt, und wir können gradezu behaupten, daß Frankreich, weil es die Complication der Beziehungen verkannte, wiederholt zu einer falschen und abenteuernden Politik getrieben ist und wiederholt auf dem schlüpfrigen Boden der orientalischen Frage die empfindlichsten Niederlagen erlitten hat. Der Conflict, der im Orient ausgebrochen war, zog deshalb besonders die lebhafteste Aufmerksamkeit aller Mächte auf sich, weil zu befürchten war, Nußland werde die Verlegenheiten des Sultans zu seinem eignen Vortheil ausbeuten. Dies war die eigentlich europäische Seite der Frage. Wenn Eng¬ land und Oestreich die Erhaltung des türkischen Reiches als eine Lebensfrage ansahen, so hatte dies ganz besonders darin seinen Grund, daß bei einer Zer¬ stückelung der Türkei keine der beiden Mächte einen Antheil an der Beute ge¬ winnen konnte, der entfernt dem Gewinne gleich gekommen wäre, den das da¬ mals übermächtige und im Innern unerschütterte, über alle Mittel seines weiten Gebietes unbedingt verfügende Rußland aus dem Zerfalle des einst so mächtigen Nachbarreiches gezogen haben würde. Es kam also darauf an, in gemeinsamer Action ohne alle Hintergedanken die Türkei durch den Schutz des gesammten Europa's zu decken. Die Eigenthümlichkeit der Situation lag aber darin, daß Nußland an einen Angriff gegen den Sultan gar nicht dachte; sein Plan ging vielmehr dahin, nicht die Pforte äußerlich zu schwächen oder ihr Verlegenheiten zu bereiten, sondern den Einfluß der übrigen Mächte von Constantinopel fern zu halten und an die Stelle eines europäischen ein ausschließlich russisches Protectorat über den Sultan zu setzen. Es trat also der Fall ein, daß der alte Feind der Pforte in der eifrigen Sorge für ihr Wohl mit den alten erprobten Freunden des osmanischen Reiches wetteiferte. Vergeblich warnten die frem¬ den Diplomaten und einsichtigen Rathe der Pforte den Sultan vor den ge¬ heimen Plänen gegen das osmanische Reich, die Rußland unter dem Schein des Schutzes verberge. Mahmud hörte nur auf die Stimme des leidenschaft¬ lichen Hasses gegen seinen übermächtigen Vasallen. „Was kümmert mich das Reich?" rief er aus, „was kümmert mich Constantinopel? Ich würde Constan¬ tinopel und das Reich demjenigen geben, der mir den Kopf Mehemed Ali's brächte." Den russischen Plänen arbeitete nur Frankreich, ohne es zu wollen, in die Hände. Es war eine eben so unbesonnene, wie haltlose Politik, wenn das französische Cabinet zwar im Vereine mit den übrigen Mächten gegen den

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341795_113241
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341795_113241/524
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 21, 1862, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341795_113241/524>, abgerufen am 28.12.2024.