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Die Grenzboten. Jg. 21, 1862, I. Semester. I. Band.

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der Verfasser durch Aufstellung einer neuen Naturphilosophie herbeizuführen, ohne
sich durch den Umstand abschrecken zu lassen, daß von allen Theilen der Phi¬
losophie die Naturphilosophie allein durch die gänzliche Resultatlosigkeit ihrer
phantastischen Bemühungen bei Forschern wie bei Laien in totalen Mißcredit
gekommen ist. Die schmähliche Niederlage Schelling's und seiner Schüler will
der Verfasser in dem unsinnigen Synkretismus von Ideen und einzelnen That¬
sachen, in dem leichtsinnigen Spiel, das jene Schule der Phantasie in Betreff
ernster Forschungen trieb, begründet finden und die Möglichkeit einer den Em¬
piriker wie den Denker gleich befriedigenden Naturphilosophie in der vollkom¬
menen Trennung der Spekulation von der Forschung mit Lupe und Messer
suchen. Er bemerkt in dieser Beziehung, daß das Grundgebrechen der
Schellingschen Philosophie sei, "daß zwischen dem bloßen Sein und den that¬
sächlichen Gesetzen der Natur und deren wirkenden Ursachen einerseits, und
dem Vollkommcnsein oder den idealen Momenten andererseits gar kein be¬
stimmter, oder nicht immer ernstlicher Unterschied gemacht wird, und daß dann
das thatsächliche, empirische und exacte Sein und Geschehen derselben gerade
so erkannt werden will, wie man die ideale Bedeutung derselben erkennen
kann. Deshalb will Schelling einerseits von oben her erkennen, construiren,
andererseits doch die Naturphilosophie als eigentliche Naturwissenschaft geltend
machen. Er unterscheidet daher die Naturwissenschaft und die Naturphilosophie
nicht von einander, sowie er das Sein und das Vollkommensein derselben nicht
unterscheidet." Allerdings ist eine solche Unterscheidung förderlich für beide
Theile; allein jeder Versuch eines Philosophen, das ganze, weltumfassende
Naturleben aus einem metaphysischen Princip heraus begreifen zu wollen, ist
doch nur, soll es nicht zur bloßen Chimäre werden, bei möglichster Berücksich¬
tigung aller bis jetzt erforschten Thatsachen möglich, sowie andererseits der
Empiriker, ohne ein Princip zu Grunde zu legen, die Summe seiner Erschei¬
nungen gar nicht begreifen kann, oder soll der Letztere etwa bei den soge¬
nannten Naturgesetzen stehen bleiben, die im Grunde ihre eigentliche Bestäti¬
gung nur von der größern oder geringern Menge der Thatsachen, die sich
unter sie subsumiren lassen, hernehmen? Wie ist also eine abjolute Trennung
zwischen Empirie und Philosophie thatsächlich durchzuführen? Schiller's
Mahnung:


Feindschaft sei zwischen euch! Noch kommt das Bündniß zu Stube:
Wenn ihr im Suchen euch trennt, wird erst die Wahrheit erkannt.

hat heute deshalb keine Geltung mehr, weil der empirische Forscher das
kolossale Material, welches die Neuzeit aufgehäuft hat. ohne Zuhilfenahme
von Ideen -- allerdings wie Kant will nur im regulativen, nicht im constitu-
tiven Sinne -- zu ordnen und zu beherrschen gar nicht vermag. Sehen wir,
wie der Verfasser seine Aufgabe, eine von allen bisherigen Versuchen sich unter-


der Verfasser durch Aufstellung einer neuen Naturphilosophie herbeizuführen, ohne
sich durch den Umstand abschrecken zu lassen, daß von allen Theilen der Phi¬
losophie die Naturphilosophie allein durch die gänzliche Resultatlosigkeit ihrer
phantastischen Bemühungen bei Forschern wie bei Laien in totalen Mißcredit
gekommen ist. Die schmähliche Niederlage Schelling's und seiner Schüler will
der Verfasser in dem unsinnigen Synkretismus von Ideen und einzelnen That¬
sachen, in dem leichtsinnigen Spiel, das jene Schule der Phantasie in Betreff
ernster Forschungen trieb, begründet finden und die Möglichkeit einer den Em¬
piriker wie den Denker gleich befriedigenden Naturphilosophie in der vollkom¬
menen Trennung der Spekulation von der Forschung mit Lupe und Messer
suchen. Er bemerkt in dieser Beziehung, daß das Grundgebrechen der
Schellingschen Philosophie sei, „daß zwischen dem bloßen Sein und den that¬
sächlichen Gesetzen der Natur und deren wirkenden Ursachen einerseits, und
dem Vollkommcnsein oder den idealen Momenten andererseits gar kein be¬
stimmter, oder nicht immer ernstlicher Unterschied gemacht wird, und daß dann
das thatsächliche, empirische und exacte Sein und Geschehen derselben gerade
so erkannt werden will, wie man die ideale Bedeutung derselben erkennen
kann. Deshalb will Schelling einerseits von oben her erkennen, construiren,
andererseits doch die Naturphilosophie als eigentliche Naturwissenschaft geltend
machen. Er unterscheidet daher die Naturwissenschaft und die Naturphilosophie
nicht von einander, sowie er das Sein und das Vollkommensein derselben nicht
unterscheidet." Allerdings ist eine solche Unterscheidung förderlich für beide
Theile; allein jeder Versuch eines Philosophen, das ganze, weltumfassende
Naturleben aus einem metaphysischen Princip heraus begreifen zu wollen, ist
doch nur, soll es nicht zur bloßen Chimäre werden, bei möglichster Berücksich¬
tigung aller bis jetzt erforschten Thatsachen möglich, sowie andererseits der
Empiriker, ohne ein Princip zu Grunde zu legen, die Summe seiner Erschei¬
nungen gar nicht begreifen kann, oder soll der Letztere etwa bei den soge¬
nannten Naturgesetzen stehen bleiben, die im Grunde ihre eigentliche Bestäti¬
gung nur von der größern oder geringern Menge der Thatsachen, die sich
unter sie subsumiren lassen, hernehmen? Wie ist also eine abjolute Trennung
zwischen Empirie und Philosophie thatsächlich durchzuführen? Schiller's
Mahnung:


Feindschaft sei zwischen euch! Noch kommt das Bündniß zu Stube:
Wenn ihr im Suchen euch trennt, wird erst die Wahrheit erkannt.

hat heute deshalb keine Geltung mehr, weil der empirische Forscher das
kolossale Material, welches die Neuzeit aufgehäuft hat. ohne Zuhilfenahme
von Ideen — allerdings wie Kant will nur im regulativen, nicht im constitu-
tiven Sinne — zu ordnen und zu beherrschen gar nicht vermag. Sehen wir,
wie der Verfasser seine Aufgabe, eine von allen bisherigen Versuchen sich unter-


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[0396] der Verfasser durch Aufstellung einer neuen Naturphilosophie herbeizuführen, ohne sich durch den Umstand abschrecken zu lassen, daß von allen Theilen der Phi¬ losophie die Naturphilosophie allein durch die gänzliche Resultatlosigkeit ihrer phantastischen Bemühungen bei Forschern wie bei Laien in totalen Mißcredit gekommen ist. Die schmähliche Niederlage Schelling's und seiner Schüler will der Verfasser in dem unsinnigen Synkretismus von Ideen und einzelnen That¬ sachen, in dem leichtsinnigen Spiel, das jene Schule der Phantasie in Betreff ernster Forschungen trieb, begründet finden und die Möglichkeit einer den Em¬ piriker wie den Denker gleich befriedigenden Naturphilosophie in der vollkom¬ menen Trennung der Spekulation von der Forschung mit Lupe und Messer suchen. Er bemerkt in dieser Beziehung, daß das Grundgebrechen der Schellingschen Philosophie sei, „daß zwischen dem bloßen Sein und den that¬ sächlichen Gesetzen der Natur und deren wirkenden Ursachen einerseits, und dem Vollkommcnsein oder den idealen Momenten andererseits gar kein be¬ stimmter, oder nicht immer ernstlicher Unterschied gemacht wird, und daß dann das thatsächliche, empirische und exacte Sein und Geschehen derselben gerade so erkannt werden will, wie man die ideale Bedeutung derselben erkennen kann. Deshalb will Schelling einerseits von oben her erkennen, construiren, andererseits doch die Naturphilosophie als eigentliche Naturwissenschaft geltend machen. Er unterscheidet daher die Naturwissenschaft und die Naturphilosophie nicht von einander, sowie er das Sein und das Vollkommensein derselben nicht unterscheidet." Allerdings ist eine solche Unterscheidung förderlich für beide Theile; allein jeder Versuch eines Philosophen, das ganze, weltumfassende Naturleben aus einem metaphysischen Princip heraus begreifen zu wollen, ist doch nur, soll es nicht zur bloßen Chimäre werden, bei möglichster Berücksich¬ tigung aller bis jetzt erforschten Thatsachen möglich, sowie andererseits der Empiriker, ohne ein Princip zu Grunde zu legen, die Summe seiner Erschei¬ nungen gar nicht begreifen kann, oder soll der Letztere etwa bei den soge¬ nannten Naturgesetzen stehen bleiben, die im Grunde ihre eigentliche Bestäti¬ gung nur von der größern oder geringern Menge der Thatsachen, die sich unter sie subsumiren lassen, hernehmen? Wie ist also eine abjolute Trennung zwischen Empirie und Philosophie thatsächlich durchzuführen? Schiller's Mahnung: Feindschaft sei zwischen euch! Noch kommt das Bündniß zu Stube: Wenn ihr im Suchen euch trennt, wird erst die Wahrheit erkannt. hat heute deshalb keine Geltung mehr, weil der empirische Forscher das kolossale Material, welches die Neuzeit aufgehäuft hat. ohne Zuhilfenahme von Ideen — allerdings wie Kant will nur im regulativen, nicht im constitu- tiven Sinne — zu ordnen und zu beherrschen gar nicht vermag. Sehen wir, wie der Verfasser seine Aufgabe, eine von allen bisherigen Versuchen sich unter-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 21, 1862, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341795_113241/396>, abgerufen am 23.07.2024.