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Die Grenzboten. Jg. 21, 1862, I. Semester. I. Band.

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Volksansicht an, daß er die schöne Welt von Göttern, Heroen. Halbgöttern
Genien gelten ließ, diese aber pantheistisch zu gestaltlosen Kräften umändert.
So erzählt z. B. Aristoteles av Mre. linia. I. p. 64: Als Gastfreunde, die
ihn besuchten, stehen blieben, weil sie ihn fanden, wie er sich im Stalle
wärmte, habe er ihnen zugerufen: "Tretet nur ein, denn auch hier sind Göt¬
ter." Wenn er daher in panthcistifcher Konsequenz sagt: die Menschen sind ge¬
storbene Götter, und die Götter gestorbene Menschen, so läßt er uns über den
Sinn dieser Worte nicht einen Augenblick in Zweifel; denn sogleich behauptet er,
daß die Menschen nach dem Tode ein Theil der reinen Bewegung der ver¬
borgenen Harmonie sind.

Heraclit ist, ohne es zu wollen, durch seine Lehre vom Fluß und der
Stabilitätslostgkeit aller Dinge der Gründer der Sophistik geworden. Wäh¬
rend jedoch diese sagte, daß nichts sei, folgerte jener, daß Alles sei. Wenn
aber aus der totalen Realität des Alls die Einheit des dem All zu Grunde
liegenden Gedankens folgt, so ist damit sofort die Lehre des Anaxagoras be¬
gründet, der ja gradezu den Gedanken i>o5?) als den Schöpfer des Alls sta-
tlnrte. Ja bis auf Plato herab erstreckt sich der directe Einfluß der Hera-
clltischeu Lehre, wie dieses Aristoteles deutlich nachweist lMctaph. I. 6.) und
auch Herr Lassalle schlagend darthut (B, II. S. 408. B. I. 102. B. II.
S. 371. B. I. S. 289--90).

Ja wem könnte bei genauerer Betrachtung des Heraclitischen Systems
entgehen, daß hier das wahre Protolypon für jenen gewaltigen allumfassen¬
den Pantheismus vorhanden ist. wie ihn Hegel mit Tiefe und großem
Wissen entwickelt hat? Wir ergänzen schließlich noch, was die Arbeit des Herrn
F. Lassalle betrifft, unser oben angedeutetes Urtheil, daß sie ein bedeutender
Beitrag zur bessern Kenntniß der griechischen Philosophie ist und die Beachtung
auch des nicht philosophischen Publicums im hohen Grade verdient. Denn
die schöne präcise Form, in der die Schrift gehalten ist, dürfte dem Verfasser
mehr Leser zuführen, als manchem andern philosophischen Schriftsteller und
ist jenem um so höher anzurechnen, als es ihm augenscheinlich nicht ohne Ueber¬
windung gelungen ist, sich von jener düstern Scholastik der Schule, zu deren
gegenwärtigen Vertretern er sich zählt, ganz fern zu halten. --

Mit der Arbeit von Frohschammer über das Verhältniß der Naturphilo¬
sophie zur Naturwissenschaft betreten wir ein Gebiet, auf welchem in neuerer
Zeit von Pilosophen wie empirischen Forschern um eine definitive Entscheidung
über die Grundprobleme der Natur hartnäckig gekämpft worden, ohne daß
bis jetzt eine Annäherung, geschweige denn eine Ausgleichung zwischen den
speculativen Ideen und den auf thatsächlicher Forschung beruhenden Resultaten
erzielt worden ist. Eine Einigung der entgegenstehenden Ansichten über die Vor¬
stellung von Stoff. Kraft, Materie, Atomen, Teleologie, Organisches :c. :c. glaubt


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Volksansicht an, daß er die schöne Welt von Göttern, Heroen. Halbgöttern
Genien gelten ließ, diese aber pantheistisch zu gestaltlosen Kräften umändert.
So erzählt z. B. Aristoteles av Mre. linia. I. p. 64: Als Gastfreunde, die
ihn besuchten, stehen blieben, weil sie ihn fanden, wie er sich im Stalle
wärmte, habe er ihnen zugerufen: „Tretet nur ein, denn auch hier sind Göt¬
ter." Wenn er daher in panthcistifcher Konsequenz sagt: die Menschen sind ge¬
storbene Götter, und die Götter gestorbene Menschen, so läßt er uns über den
Sinn dieser Worte nicht einen Augenblick in Zweifel; denn sogleich behauptet er,
daß die Menschen nach dem Tode ein Theil der reinen Bewegung der ver¬
borgenen Harmonie sind.

Heraclit ist, ohne es zu wollen, durch seine Lehre vom Fluß und der
Stabilitätslostgkeit aller Dinge der Gründer der Sophistik geworden. Wäh¬
rend jedoch diese sagte, daß nichts sei, folgerte jener, daß Alles sei. Wenn
aber aus der totalen Realität des Alls die Einheit des dem All zu Grunde
liegenden Gedankens folgt, so ist damit sofort die Lehre des Anaxagoras be¬
gründet, der ja gradezu den Gedanken i>o5?) als den Schöpfer des Alls sta-
tlnrte. Ja bis auf Plato herab erstreckt sich der directe Einfluß der Hera-
clltischeu Lehre, wie dieses Aristoteles deutlich nachweist lMctaph. I. 6.) und
auch Herr Lassalle schlagend darthut (B, II. S. 408. B. I. 102. B. II.
S. 371. B. I. S. 289—90).

Ja wem könnte bei genauerer Betrachtung des Heraclitischen Systems
entgehen, daß hier das wahre Protolypon für jenen gewaltigen allumfassen¬
den Pantheismus vorhanden ist. wie ihn Hegel mit Tiefe und großem
Wissen entwickelt hat? Wir ergänzen schließlich noch, was die Arbeit des Herrn
F. Lassalle betrifft, unser oben angedeutetes Urtheil, daß sie ein bedeutender
Beitrag zur bessern Kenntniß der griechischen Philosophie ist und die Beachtung
auch des nicht philosophischen Publicums im hohen Grade verdient. Denn
die schöne präcise Form, in der die Schrift gehalten ist, dürfte dem Verfasser
mehr Leser zuführen, als manchem andern philosophischen Schriftsteller und
ist jenem um so höher anzurechnen, als es ihm augenscheinlich nicht ohne Ueber¬
windung gelungen ist, sich von jener düstern Scholastik der Schule, zu deren
gegenwärtigen Vertretern er sich zählt, ganz fern zu halten. —

Mit der Arbeit von Frohschammer über das Verhältniß der Naturphilo¬
sophie zur Naturwissenschaft betreten wir ein Gebiet, auf welchem in neuerer
Zeit von Pilosophen wie empirischen Forschern um eine definitive Entscheidung
über die Grundprobleme der Natur hartnäckig gekämpft worden, ohne daß
bis jetzt eine Annäherung, geschweige denn eine Ausgleichung zwischen den
speculativen Ideen und den auf thatsächlicher Forschung beruhenden Resultaten
erzielt worden ist. Eine Einigung der entgegenstehenden Ansichten über die Vor¬
stellung von Stoff. Kraft, Materie, Atomen, Teleologie, Organisches :c. :c. glaubt


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 21, 1862, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341795_113241/395>, abgerufen am 28.09.2024.