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Die Grenzboten. Jg. 21, 1862, I. Semester. I. Band.

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dem- System entgegengesetzt seil Denn in der That, der Despotismus ist im
Großen nur was die Gemeine im Kleinen; er ist in der Entwickelung was
sie im Kenn; alle Consequenzen des Einen liegen schon in dem Andern. Erst
aus dem Wesen der Gemeine begreift sich, wie das despotische Princip zu einer
soi furchtbaren Entwickelung gelangen konnte: es zeigt sich als in der Natur
des Volkes selbst gegeben und begründet. Wenn also das herrschende System
je an der altrussischen Gemeineverfassung zu rütteln versucht Hut -- und Der¬
gleichen isti allerdings vorgekommen -- so verstand sich das Mißlingen so
thörichter Unternehmungen ganz von selbst: der Despotismus konnte sein
eigenes' Grundprincip unmöglich mit den ihm eigenthümlichen Waffen zer¬
stören. Fürwahr! die Anhänger der bestehenden Gewalt Hütten weit mehr
Ursache, über die unzerstörbare Festigkeit dieses Organismus zu jubeln, als die
Gegner, welche ihr liberales Nußland darauf gründen wollen. Denn dieser
Organismus ist eben doch kein Organismus, er ist ein bloßer Rumpf, dem
a-lie^ lebendige Bewegung der Glieder fehlt, eine unförmliche, regungslose Masse,
ein abstractes Ganzes, unter dessen Bann das Individuum nicht zur Entwick¬
lung seiner Fähigkeit und Kraft und damit zum Bewußtsein seiner Persönlichkeit
gelangen kann. Unter diesem Bann aber vegetirt die ungeheure Mehrheit des
russischen Volks von Anbeginn seiner Existenz: es ist das Kolossalste von Ent-
wicklungslosigkeit, was die Welt nächst China kennt; und doch, so versichern
die oberflächlichen Freunde des Liberalismus, soll aus diesem unfruchtbaren,
abgestorbenen Stamme die Freiheit aller Reußen erblühn.

Vom Volke also, der Gesammtheit der niedern Klassen, ist ein liberaler
Aufschwung auf Grund der geringen Neste seines ursprünglichen politischen
Lebens nicht zu hoffen. Ein rechtes Bürgerthum aber, überall der Träger
freisinniger Entwicklung, fehlt bekanntlich in Rußland so gut wie> ganz. Und
doch erwarten die sogenannten gebildeten Klassen, d. h. der Adel und das
Literatenthum. welche als rühriger, einflußreicher Stand im Staat längst sich
aufgegeben haben, alles Heil vom "Volke". Ueber die Nichtsnutzigkeit jener
Klassen ist man vollkommen im Reinen, während man durchgehends den un"
gebildeten, gemeinen Russen, das eigentliche "Volk" für tüchtig und im Kern
seines Wesens gesund hält. Seltsamer und bedenklicher Widerspruch! Woher
die faulen Früchte, wenn der Stamm in seiner Wurzel gesund ist? Wie muß
es mit der Entwicklungsfähigkeit eines Volkes bestellt" sein, wo die Bildung
durchweg" statt" zur Steigerung des sittlichen Bewußtseins, zum Gegentheil, zur
völligen Entäußerung eines ursprünglich vorhandenen sittlichen Gehalts
führt.

Von hier aus eröffnet sich die richtige Perspektive auf das Wesen des
russischen Volkscharakters. auf den schließlich, als auf ihren letzten Grund, alte
Erscheinungen in Staat und Gesellschaft sich zurückführen.


dem- System entgegengesetzt seil Denn in der That, der Despotismus ist im
Großen nur was die Gemeine im Kleinen; er ist in der Entwickelung was
sie im Kenn; alle Consequenzen des Einen liegen schon in dem Andern. Erst
aus dem Wesen der Gemeine begreift sich, wie das despotische Princip zu einer
soi furchtbaren Entwickelung gelangen konnte: es zeigt sich als in der Natur
des Volkes selbst gegeben und begründet. Wenn also das herrschende System
je an der altrussischen Gemeineverfassung zu rütteln versucht Hut — und Der¬
gleichen isti allerdings vorgekommen — so verstand sich das Mißlingen so
thörichter Unternehmungen ganz von selbst: der Despotismus konnte sein
eigenes' Grundprincip unmöglich mit den ihm eigenthümlichen Waffen zer¬
stören. Fürwahr! die Anhänger der bestehenden Gewalt Hütten weit mehr
Ursache, über die unzerstörbare Festigkeit dieses Organismus zu jubeln, als die
Gegner, welche ihr liberales Nußland darauf gründen wollen. Denn dieser
Organismus ist eben doch kein Organismus, er ist ein bloßer Rumpf, dem
a-lie^ lebendige Bewegung der Glieder fehlt, eine unförmliche, regungslose Masse,
ein abstractes Ganzes, unter dessen Bann das Individuum nicht zur Entwick¬
lung seiner Fähigkeit und Kraft und damit zum Bewußtsein seiner Persönlichkeit
gelangen kann. Unter diesem Bann aber vegetirt die ungeheure Mehrheit des
russischen Volks von Anbeginn seiner Existenz: es ist das Kolossalste von Ent-
wicklungslosigkeit, was die Welt nächst China kennt; und doch, so versichern
die oberflächlichen Freunde des Liberalismus, soll aus diesem unfruchtbaren,
abgestorbenen Stamme die Freiheit aller Reußen erblühn.

Vom Volke also, der Gesammtheit der niedern Klassen, ist ein liberaler
Aufschwung auf Grund der geringen Neste seines ursprünglichen politischen
Lebens nicht zu hoffen. Ein rechtes Bürgerthum aber, überall der Träger
freisinniger Entwicklung, fehlt bekanntlich in Rußland so gut wie> ganz. Und
doch erwarten die sogenannten gebildeten Klassen, d. h. der Adel und das
Literatenthum. welche als rühriger, einflußreicher Stand im Staat längst sich
aufgegeben haben, alles Heil vom „Volke". Ueber die Nichtsnutzigkeit jener
Klassen ist man vollkommen im Reinen, während man durchgehends den un»
gebildeten, gemeinen Russen, das eigentliche „Volk" für tüchtig und im Kern
seines Wesens gesund hält. Seltsamer und bedenklicher Widerspruch! Woher
die faulen Früchte, wenn der Stamm in seiner Wurzel gesund ist? Wie muß
es mit der Entwicklungsfähigkeit eines Volkes bestellt" sein, wo die Bildung
durchweg» statt" zur Steigerung des sittlichen Bewußtseins, zum Gegentheil, zur
völligen Entäußerung eines ursprünglich vorhandenen sittlichen Gehalts
führt.

Von hier aus eröffnet sich die richtige Perspektive auf das Wesen des
russischen Volkscharakters. auf den schließlich, als auf ihren letzten Grund, alte
Erscheinungen in Staat und Gesellschaft sich zurückführen.


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[0381] dem- System entgegengesetzt seil Denn in der That, der Despotismus ist im Großen nur was die Gemeine im Kleinen; er ist in der Entwickelung was sie im Kenn; alle Consequenzen des Einen liegen schon in dem Andern. Erst aus dem Wesen der Gemeine begreift sich, wie das despotische Princip zu einer soi furchtbaren Entwickelung gelangen konnte: es zeigt sich als in der Natur des Volkes selbst gegeben und begründet. Wenn also das herrschende System je an der altrussischen Gemeineverfassung zu rütteln versucht Hut — und Der¬ gleichen isti allerdings vorgekommen — so verstand sich das Mißlingen so thörichter Unternehmungen ganz von selbst: der Despotismus konnte sein eigenes' Grundprincip unmöglich mit den ihm eigenthümlichen Waffen zer¬ stören. Fürwahr! die Anhänger der bestehenden Gewalt Hütten weit mehr Ursache, über die unzerstörbare Festigkeit dieses Organismus zu jubeln, als die Gegner, welche ihr liberales Nußland darauf gründen wollen. Denn dieser Organismus ist eben doch kein Organismus, er ist ein bloßer Rumpf, dem a-lie^ lebendige Bewegung der Glieder fehlt, eine unförmliche, regungslose Masse, ein abstractes Ganzes, unter dessen Bann das Individuum nicht zur Entwick¬ lung seiner Fähigkeit und Kraft und damit zum Bewußtsein seiner Persönlichkeit gelangen kann. Unter diesem Bann aber vegetirt die ungeheure Mehrheit des russischen Volks von Anbeginn seiner Existenz: es ist das Kolossalste von Ent- wicklungslosigkeit, was die Welt nächst China kennt; und doch, so versichern die oberflächlichen Freunde des Liberalismus, soll aus diesem unfruchtbaren, abgestorbenen Stamme die Freiheit aller Reußen erblühn. Vom Volke also, der Gesammtheit der niedern Klassen, ist ein liberaler Aufschwung auf Grund der geringen Neste seines ursprünglichen politischen Lebens nicht zu hoffen. Ein rechtes Bürgerthum aber, überall der Träger freisinniger Entwicklung, fehlt bekanntlich in Rußland so gut wie> ganz. Und doch erwarten die sogenannten gebildeten Klassen, d. h. der Adel und das Literatenthum. welche als rühriger, einflußreicher Stand im Staat längst sich aufgegeben haben, alles Heil vom „Volke". Ueber die Nichtsnutzigkeit jener Klassen ist man vollkommen im Reinen, während man durchgehends den un» gebildeten, gemeinen Russen, das eigentliche „Volk" für tüchtig und im Kern seines Wesens gesund hält. Seltsamer und bedenklicher Widerspruch! Woher die faulen Früchte, wenn der Stamm in seiner Wurzel gesund ist? Wie muß es mit der Entwicklungsfähigkeit eines Volkes bestellt" sein, wo die Bildung durchweg» statt" zur Steigerung des sittlichen Bewußtseins, zum Gegentheil, zur völligen Entäußerung eines ursprünglich vorhandenen sittlichen Gehalts führt. Von hier aus eröffnet sich die richtige Perspektive auf das Wesen des russischen Volkscharakters. auf den schließlich, als auf ihren letzten Grund, alte Erscheinungen in Staat und Gesellschaft sich zurückführen.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 21, 1862, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341795_113241/381>, abgerufen am 23.07.2024.