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Die Grenzboten. Jg. 21, 1862, I. Semester. I. Band.

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aus eine falsche Fährte zu bringen gewußt" Zeigte sich schon oben, daß- wir
in russischen Dingen allzu leichtgläubig, sind, so findet sich .auch hier. daß
einiges Mißtrauen gegen die Hertzen'sehen Behauptungen am Platze gewesen
wäre. Bei der bekannten Neigung des slavischen Individuums/ in der Masse-
aufzugehn ist die Fähigfeit der russischem Gemeine sich selber zu regieren, --
eine,Fähigkeit, die überall nur-aus-einem stark entwickelten Selbstbewußtsein des
Einzelnem erklärt werde"! kann --- sehr zweifelhaft: Und um so mehr Beden"
ken mußte der Hertzen'sche Satz erregen, als das' bäuerliche Selfgovernment
mit' einer gewissen Gütergemeinschaft verbunden sein sollte. Diese aber^ ist;
wo sie als organisches Element im Volksleben erscheint, immer ein! Beweis
schwach entwickelten individuellen Bewußtseins. Hier liegen also Widersprüche.
Und in der That, sehen- wir näher zu, so finden wir. daß Hertzen sich im In¬
teresse seiner Zukunftsrepublik einige kleine Lügen erlaubt hat, die er einem
so) großen Zweck gegenüber für-vollkommen berechtigt zu halten scheint.

Die russische Gemeine ist in der That der reine unverfälschte Ausdruck
der slavischen Weltanschauung, die in den Erscheinungen des Lebens überall
nur Einheit, compacte Masse, nirgends Lielhnti Individuelles zu sehen ver¬
mag: In der Gemeine zunächst hat sich dieser Begriff eines abstracten Gan¬
zen, dessen einzelne Theile als solche völlig bedeutungslos sind, nicht als selb¬
ständig existirend gedacht werden können, verkörpert. Es ist daher nur ein
Gemeinerecht, kein Recht der Gemeineglieder denkbar. Vertreter, sichtbarer
Ausdruck der Gemeinegewalt ist der Aelteste, welcher von den als' "Gemeine"
versammelten Dorfsassen gewählt wird; und darauf in Wahrheit beschränkt
sich die ganze sogenannte Selbstverwaltung. Denn dieser Aelteste führt ein
ganz! absolutes Regiment: mit seiner Wahl ist er selber die Gemeine gewor¬
den^ die nur sich als Ganzes kennt, für die das einzelne Gemeineglied nicht
da> ist'. Hiernach erklärt sich die- socialistische Grundlage der russischen- Gc-
meineversassung ganz einfach: sie beruht nicht auf der Idee der Gleichberech¬
tigung! Alter, sondern- umgekehrt aus dem Gefühl der gleichen Rechtlosigkeit
der-Einzelnen dem Ganzen gegenüber" Unrecht aber kann demnach nur gegen,
nicht aber-durch, die Gemeine geübt werden: der> Aelteste darf sich gegen-den-
Einzelnen die gröbste'Willkür und Unbill erlauben; verantwortlich wird er
nur! wenn er> sich gegen die Gemeine selbst vergeht. Das Ergebniß dieser
Gemeineverfassung für das politische Leben also ist: einerseits strenge, tyran¬
nische-Ueberwachung und Einschnürung- der Thätigkeit des Einzelnen von Sei¬
ten des Ganzen; andrerseits solidarische- Haftbarkeit des Letzteren für alles
Thun und Lassen des Ersteren dem Staat! gegenüber.

Da nun diese Gemeineverfassung allerdings aus der innersten Volks-natur
heraus entstanden ist-, so^ ist vielmehr dies-richtig, daß das herrschende Sy¬
stem auf der- Gemeine- beruht, als umgekehrt jenes, daß die Gemeineverfassung


aus eine falsche Fährte zu bringen gewußt» Zeigte sich schon oben, daß- wir
in russischen Dingen allzu leichtgläubig, sind, so findet sich .auch hier. daß
einiges Mißtrauen gegen die Hertzen'sehen Behauptungen am Platze gewesen
wäre. Bei der bekannten Neigung des slavischen Individuums/ in der Masse-
aufzugehn ist die Fähigfeit der russischem Gemeine sich selber zu regieren, —
eine,Fähigkeit, die überall nur-aus-einem stark entwickelten Selbstbewußtsein des
Einzelnem erklärt werde»! kann —- sehr zweifelhaft: Und um so mehr Beden«
ken mußte der Hertzen'sche Satz erregen, als das' bäuerliche Selfgovernment
mit' einer gewissen Gütergemeinschaft verbunden sein sollte. Diese aber^ ist;
wo sie als organisches Element im Volksleben erscheint, immer ein! Beweis
schwach entwickelten individuellen Bewußtseins. Hier liegen also Widersprüche.
Und in der That, sehen- wir näher zu, so finden wir. daß Hertzen sich im In¬
teresse seiner Zukunftsrepublik einige kleine Lügen erlaubt hat, die er einem
so) großen Zweck gegenüber für-vollkommen berechtigt zu halten scheint.

Die russische Gemeine ist in der That der reine unverfälschte Ausdruck
der slavischen Weltanschauung, die in den Erscheinungen des Lebens überall
nur Einheit, compacte Masse, nirgends Lielhnti Individuelles zu sehen ver¬
mag: In der Gemeine zunächst hat sich dieser Begriff eines abstracten Gan¬
zen, dessen einzelne Theile als solche völlig bedeutungslos sind, nicht als selb¬
ständig existirend gedacht werden können, verkörpert. Es ist daher nur ein
Gemeinerecht, kein Recht der Gemeineglieder denkbar. Vertreter, sichtbarer
Ausdruck der Gemeinegewalt ist der Aelteste, welcher von den als' „Gemeine"
versammelten Dorfsassen gewählt wird; und darauf in Wahrheit beschränkt
sich die ganze sogenannte Selbstverwaltung. Denn dieser Aelteste führt ein
ganz! absolutes Regiment: mit seiner Wahl ist er selber die Gemeine gewor¬
den^ die nur sich als Ganzes kennt, für die das einzelne Gemeineglied nicht
da> ist'. Hiernach erklärt sich die- socialistische Grundlage der russischen- Gc-
meineversassung ganz einfach: sie beruht nicht auf der Idee der Gleichberech¬
tigung! Alter, sondern- umgekehrt aus dem Gefühl der gleichen Rechtlosigkeit
der-Einzelnen dem Ganzen gegenüber» Unrecht aber kann demnach nur gegen,
nicht aber-durch, die Gemeine geübt werden: der> Aelteste darf sich gegen-den-
Einzelnen die gröbste'Willkür und Unbill erlauben; verantwortlich wird er
nur! wenn er> sich gegen die Gemeine selbst vergeht. Das Ergebniß dieser
Gemeineverfassung für das politische Leben also ist: einerseits strenge, tyran¬
nische-Ueberwachung und Einschnürung- der Thätigkeit des Einzelnen von Sei¬
ten des Ganzen; andrerseits solidarische- Haftbarkeit des Letzteren für alles
Thun und Lassen des Ersteren dem Staat! gegenüber.

Da nun diese Gemeineverfassung allerdings aus der innersten Volks-natur
heraus entstanden ist-, so^ ist vielmehr dies-richtig, daß das herrschende Sy¬
stem auf der- Gemeine- beruht, als umgekehrt jenes, daß die Gemeineverfassung


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 21, 1862, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341795_113241/380>, abgerufen am 23.07.2024.