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Die Grenzboten. Jg. 21, 1862, I. Semester. I. Band.

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Gemeine und Staat beruhen durchweg, wie wir gesehn, auf Nichtaner¬
kennung und Nichtachtung des Individuums. Nichtachtung des Individuums
aber, wo sie Grundanschauung ist, berechtigt ohne Weiteres auf die Nichtigkeit
desselben zu schließen. Und dies zeigt sich denn auch beim russischen Indivi¬
duum, wenn man es für sich, als außerhalb der Masse stehend, betrachtet.
Aus dem instinctiven Gefühl dieser Nichtigkeit und dem daraus folgenden
Mangel an Selbstachtung, der bei dem "gebildeten" Russen hinter aller bru¬
talen Anmaßung deutlich genug hervorblickt, bei dem ungebildeten aber als
kriechende Demuth sich äußert, liegt der Grund der slavischen Weltanschauung.
Die Kehrseite dieses Mangels an .richtigem Selbstgefühl ist die slavische Un-
empfänglichkeit für alles Ideale: beide zusammen erklären die sittliche Haltlosig-
keit des Einzelnen. Weil der Nüsse sich seiner Persönlichkeit nicht bewußt ist,
so kennt er nur kleine, rein persönliche Zwecke; weil er die Welt als ein ab-
stractes. unterschiedsloses leeres Ganze auffaßt, weiß er in ihr keinen großen
allgemeinen Zweck zu finden und sich dafür zu begeistern. Ebenso wenig ver¬
mag er in der Aufgabe des Staats eine sittliche Nothwendigkeit zu entdecken:
er sieht in ihm nichts als eine Zwangsanstalt, bestimmt die bloßen Macbtge-
lüste eines Einzelnen zu befriedigen, einen Feind, dessen Zwecke zu unterstützen
er keine Ursache hat, dem er vielmehr allerwegen nach Kräften zu schaden be¬
rechtigt ist.

In der That, nnr blinde Gewalt kann ein Staatswesen zusammenhalten,
das jeder höheren Idee so gänzlich entbehrt. Wie soll sich Muth, Kraft und
Begeisterung zum Widerstande gegen despotische Willkür in der Brust derer
finden, die keinen erhabeneren Zweck kennen als persönlichen Bortheil? Und
aus einer solchen Weltanschauung, wie sie sich aus der Geschichte und dem
Charakter der Nation ergeben hat, sollten diejenigen Formen hervorgehn kön¬
nen, welche sich bei uns der zur Freiheit strebende Geist aus seinem innersten
Wesen heraus gebildet hat?

Sehen wir nun gleichwohl Rußland nach europäisch-freien Formen in
Staat und Gesellschaft streben, so können wir darin nur einen verhängnißvollen
Irrthum über die Grundbedingungen der eigenen Existenz,, einen Widerspruch
der Nation mit dem innersten Geheimniß ihres Wesens finden, welcher zu
einem unversöhnlichen Kampf der Gegensätze führen muß; zu einem Kampfe,
der entweder mit rascher Ausstoßung des von außen hineingebrachten, oder,
was viel wahrscheinlicher ist. mit langsamer, aber sicherer Zersetzung und Auf¬
lösung des nationalen Elements enden wird. Aber wir begreifen einen sol-,
chen Widerspruch. Ein plötzliches Umschlagen von einem politischen Extrem
zum andern, wie es in Rußland neuerdings vor sich gegangen, kann bei einem
Volke nicht befremden, das sich in seinem Thun und Denken nie von Ge¬
sinnung und Ueberzeugung, sondern stets nur von dem wirklichen oder ver-


Gemeine und Staat beruhen durchweg, wie wir gesehn, auf Nichtaner¬
kennung und Nichtachtung des Individuums. Nichtachtung des Individuums
aber, wo sie Grundanschauung ist, berechtigt ohne Weiteres auf die Nichtigkeit
desselben zu schließen. Und dies zeigt sich denn auch beim russischen Indivi¬
duum, wenn man es für sich, als außerhalb der Masse stehend, betrachtet.
Aus dem instinctiven Gefühl dieser Nichtigkeit und dem daraus folgenden
Mangel an Selbstachtung, der bei dem „gebildeten" Russen hinter aller bru¬
talen Anmaßung deutlich genug hervorblickt, bei dem ungebildeten aber als
kriechende Demuth sich äußert, liegt der Grund der slavischen Weltanschauung.
Die Kehrseite dieses Mangels an .richtigem Selbstgefühl ist die slavische Un-
empfänglichkeit für alles Ideale: beide zusammen erklären die sittliche Haltlosig-
keit des Einzelnen. Weil der Nüsse sich seiner Persönlichkeit nicht bewußt ist,
so kennt er nur kleine, rein persönliche Zwecke; weil er die Welt als ein ab-
stractes. unterschiedsloses leeres Ganze auffaßt, weiß er in ihr keinen großen
allgemeinen Zweck zu finden und sich dafür zu begeistern. Ebenso wenig ver¬
mag er in der Aufgabe des Staats eine sittliche Nothwendigkeit zu entdecken:
er sieht in ihm nichts als eine Zwangsanstalt, bestimmt die bloßen Macbtge-
lüste eines Einzelnen zu befriedigen, einen Feind, dessen Zwecke zu unterstützen
er keine Ursache hat, dem er vielmehr allerwegen nach Kräften zu schaden be¬
rechtigt ist.

In der That, nnr blinde Gewalt kann ein Staatswesen zusammenhalten,
das jeder höheren Idee so gänzlich entbehrt. Wie soll sich Muth, Kraft und
Begeisterung zum Widerstande gegen despotische Willkür in der Brust derer
finden, die keinen erhabeneren Zweck kennen als persönlichen Bortheil? Und
aus einer solchen Weltanschauung, wie sie sich aus der Geschichte und dem
Charakter der Nation ergeben hat, sollten diejenigen Formen hervorgehn kön¬
nen, welche sich bei uns der zur Freiheit strebende Geist aus seinem innersten
Wesen heraus gebildet hat?

Sehen wir nun gleichwohl Rußland nach europäisch-freien Formen in
Staat und Gesellschaft streben, so können wir darin nur einen verhängnißvollen
Irrthum über die Grundbedingungen der eigenen Existenz,, einen Widerspruch
der Nation mit dem innersten Geheimniß ihres Wesens finden, welcher zu
einem unversöhnlichen Kampf der Gegensätze führen muß; zu einem Kampfe,
der entweder mit rascher Ausstoßung des von außen hineingebrachten, oder,
was viel wahrscheinlicher ist. mit langsamer, aber sicherer Zersetzung und Auf¬
lösung des nationalen Elements enden wird. Aber wir begreifen einen sol-,
chen Widerspruch. Ein plötzliches Umschlagen von einem politischen Extrem
zum andern, wie es in Rußland neuerdings vor sich gegangen, kann bei einem
Volke nicht befremden, das sich in seinem Thun und Denken nie von Ge¬
sinnung und Ueberzeugung, sondern stets nur von dem wirklichen oder ver-


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[0382] Gemeine und Staat beruhen durchweg, wie wir gesehn, auf Nichtaner¬ kennung und Nichtachtung des Individuums. Nichtachtung des Individuums aber, wo sie Grundanschauung ist, berechtigt ohne Weiteres auf die Nichtigkeit desselben zu schließen. Und dies zeigt sich denn auch beim russischen Indivi¬ duum, wenn man es für sich, als außerhalb der Masse stehend, betrachtet. Aus dem instinctiven Gefühl dieser Nichtigkeit und dem daraus folgenden Mangel an Selbstachtung, der bei dem „gebildeten" Russen hinter aller bru¬ talen Anmaßung deutlich genug hervorblickt, bei dem ungebildeten aber als kriechende Demuth sich äußert, liegt der Grund der slavischen Weltanschauung. Die Kehrseite dieses Mangels an .richtigem Selbstgefühl ist die slavische Un- empfänglichkeit für alles Ideale: beide zusammen erklären die sittliche Haltlosig- keit des Einzelnen. Weil der Nüsse sich seiner Persönlichkeit nicht bewußt ist, so kennt er nur kleine, rein persönliche Zwecke; weil er die Welt als ein ab- stractes. unterschiedsloses leeres Ganze auffaßt, weiß er in ihr keinen großen allgemeinen Zweck zu finden und sich dafür zu begeistern. Ebenso wenig ver¬ mag er in der Aufgabe des Staats eine sittliche Nothwendigkeit zu entdecken: er sieht in ihm nichts als eine Zwangsanstalt, bestimmt die bloßen Macbtge- lüste eines Einzelnen zu befriedigen, einen Feind, dessen Zwecke zu unterstützen er keine Ursache hat, dem er vielmehr allerwegen nach Kräften zu schaden be¬ rechtigt ist. In der That, nnr blinde Gewalt kann ein Staatswesen zusammenhalten, das jeder höheren Idee so gänzlich entbehrt. Wie soll sich Muth, Kraft und Begeisterung zum Widerstande gegen despotische Willkür in der Brust derer finden, die keinen erhabeneren Zweck kennen als persönlichen Bortheil? Und aus einer solchen Weltanschauung, wie sie sich aus der Geschichte und dem Charakter der Nation ergeben hat, sollten diejenigen Formen hervorgehn kön¬ nen, welche sich bei uns der zur Freiheit strebende Geist aus seinem innersten Wesen heraus gebildet hat? Sehen wir nun gleichwohl Rußland nach europäisch-freien Formen in Staat und Gesellschaft streben, so können wir darin nur einen verhängnißvollen Irrthum über die Grundbedingungen der eigenen Existenz,, einen Widerspruch der Nation mit dem innersten Geheimniß ihres Wesens finden, welcher zu einem unversöhnlichen Kampf der Gegensätze führen muß; zu einem Kampfe, der entweder mit rascher Ausstoßung des von außen hineingebrachten, oder, was viel wahrscheinlicher ist. mit langsamer, aber sicherer Zersetzung und Auf¬ lösung des nationalen Elements enden wird. Aber wir begreifen einen sol-, chen Widerspruch. Ein plötzliches Umschlagen von einem politischen Extrem zum andern, wie es in Rußland neuerdings vor sich gegangen, kann bei einem Volke nicht befremden, das sich in seinem Thun und Denken nie von Ge¬ sinnung und Ueberzeugung, sondern stets nur von dem wirklichen oder ver-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 21, 1862, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341795_113241/382>, abgerufen am 23.07.2024.