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Die Grenzboten. Jg. 21, 1862, I. Semester. I. Band.

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ihrem Bundesverhältnisse eine einheitlichere Gestaltung zu geben.. Die Schweiz
aber, ein völkerrechtlich neutraler Staat, wird nicht durch ihre Zersplitterung,
sondern durch die gegenseitige Eifersucht der europäischen Mächte geschützt.
Und trotz dieses mächtigen Schutzes hat auch hie, Schweiz die Nothwendigkeit
einer größeren Bundesgewalt gesuhlt; und wer möchte bei der gegenwärtigen
Lage der Weltverhältnisse bestreiten, daß sie von einem richtigen Gefühle ge¬
leitet worden ist? Ueber Amerika brauchen wir kein Wort zu verlieren. Kaz"
es ist eine Lebensbedingung für jede Nation,, auch für die friedlichste, genüg¬
samste, die Leitung ihrer Bertheidigungsmittel in einer Hand zu. concen-
triren.

An der Möglichkeit eines Bundesverhältnisses, in dem die politische und
militärische Initiative in eine starke Hand gelegt ist, zu zweifeln, fällt uns
nicht ein; das hieße an der Zukunft unsrer eignen Nation verzweifeln. Aber,
abgesehen von der Unmöglichkeit, jetzt "och, nach der Vertreibung, der italie¬
nischen Fürsten, eine kräftige, Conföderation zu gründen, ist es klar, daß
Guizot an ein derartiges Bundesverhältniß gar nicht gedacht hat. Er for¬
dert vielmehr einen Bund, der seine Unabhängigkeit nicht in seiner Stärke,
sondern in seiner Schwäche, in der Unmöglichkeit, angreifend aufzutreten, fin¬
den soll. Wir glauben un Gegentheil, daß keine Nation in Europa mehr
Ursache hal, ihre Kräfte zu entwickeln und zu concentriren, als die italienische,
wenn sie ihre Unabhängigkeit behaupten und nicht blos für den Augenblick,
sondern auch für die Zukunft den sie unvermeidlich bedrohenden. Gefahren ge¬
wachsen bleiben will. Denn obschon seiner Natur nach auf eine friedliche
Politik angewiesen, ist doch, nächst Deutschland, kein Land Europa's mehr der
Gefahr fremder Angriffe und siemder Einmischung ausgesetzt, als Italien;
die neueren Ereignisse haben in der Beziehung seine Lage durchaus nicht
verbessert.

Denn Italien ist noch heut, wie vor 300 Jahren, für die beiden großen
Rivalen Oestreich und Frankreich der stets bereite, stets verlockende Kampfplatz,
eine offene Wunde im europäischen Staatensysteme, die einen dauernden, auf¬
richtigen Weltfrieden vollkommen unmöglich macht. Dieser unerträglich" Zu¬
stand kann und wird erst dann aufhören, wenn Italien stark genug ist,, jedem
der beiden Rivalen die Spitze zu bieten, ohne nöthig zu haben, die Hilfe des
andern anzurufen. In Frankreichs Interesse liegt es natürlich, die Erreichung
dieses Zieles, d. h. die Emancipirung Italiens von Frankreichs zu hindern,
oder wenn dies nicht möglich sein sollte, zu verzögern. Das ist nicht etwa
Napoleonische, es ist ächt französische Politik; Orlea>usem, Legitimisten, ja
selbst die Republikaner würden, wenn sie am Nuder wären, Italien gegen¬
über keinen andern Standpunkt einnehmen. Guizot's Argumente (und das
ist der Hauptpunkt, aus den es bei Beurtheilung, seiner Ansichten ankommt)


ihrem Bundesverhältnisse eine einheitlichere Gestaltung zu geben.. Die Schweiz
aber, ein völkerrechtlich neutraler Staat, wird nicht durch ihre Zersplitterung,
sondern durch die gegenseitige Eifersucht der europäischen Mächte geschützt.
Und trotz dieses mächtigen Schutzes hat auch hie, Schweiz die Nothwendigkeit
einer größeren Bundesgewalt gesuhlt; und wer möchte bei der gegenwärtigen
Lage der Weltverhältnisse bestreiten, daß sie von einem richtigen Gefühle ge¬
leitet worden ist? Ueber Amerika brauchen wir kein Wort zu verlieren. Kaz»
es ist eine Lebensbedingung für jede Nation,, auch für die friedlichste, genüg¬
samste, die Leitung ihrer Bertheidigungsmittel in einer Hand zu. concen-
triren.

An der Möglichkeit eines Bundesverhältnisses, in dem die politische und
militärische Initiative in eine starke Hand gelegt ist, zu zweifeln, fällt uns
nicht ein; das hieße an der Zukunft unsrer eignen Nation verzweifeln. Aber,
abgesehen von der Unmöglichkeit, jetzt »och, nach der Vertreibung, der italie¬
nischen Fürsten, eine kräftige, Conföderation zu gründen, ist es klar, daß
Guizot an ein derartiges Bundesverhältniß gar nicht gedacht hat. Er for¬
dert vielmehr einen Bund, der seine Unabhängigkeit nicht in seiner Stärke,
sondern in seiner Schwäche, in der Unmöglichkeit, angreifend aufzutreten, fin¬
den soll. Wir glauben un Gegentheil, daß keine Nation in Europa mehr
Ursache hal, ihre Kräfte zu entwickeln und zu concentriren, als die italienische,
wenn sie ihre Unabhängigkeit behaupten und nicht blos für den Augenblick,
sondern auch für die Zukunft den sie unvermeidlich bedrohenden. Gefahren ge¬
wachsen bleiben will. Denn obschon seiner Natur nach auf eine friedliche
Politik angewiesen, ist doch, nächst Deutschland, kein Land Europa's mehr der
Gefahr fremder Angriffe und siemder Einmischung ausgesetzt, als Italien;
die neueren Ereignisse haben in der Beziehung seine Lage durchaus nicht
verbessert.

Denn Italien ist noch heut, wie vor 300 Jahren, für die beiden großen
Rivalen Oestreich und Frankreich der stets bereite, stets verlockende Kampfplatz,
eine offene Wunde im europäischen Staatensysteme, die einen dauernden, auf¬
richtigen Weltfrieden vollkommen unmöglich macht. Dieser unerträglich« Zu¬
stand kann und wird erst dann aufhören, wenn Italien stark genug ist,, jedem
der beiden Rivalen die Spitze zu bieten, ohne nöthig zu haben, die Hilfe des
andern anzurufen. In Frankreichs Interesse liegt es natürlich, die Erreichung
dieses Zieles, d. h. die Emancipirung Italiens von Frankreichs zu hindern,
oder wenn dies nicht möglich sein sollte, zu verzögern. Das ist nicht etwa
Napoleonische, es ist ächt französische Politik; Orlea>usem, Legitimisten, ja
selbst die Republikaner würden, wenn sie am Nuder wären, Italien gegen¬
über keinen andern Standpunkt einnehmen. Guizot's Argumente (und das
ist der Hauptpunkt, aus den es bei Beurtheilung, seiner Ansichten ankommt)


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[0322] ihrem Bundesverhältnisse eine einheitlichere Gestaltung zu geben.. Die Schweiz aber, ein völkerrechtlich neutraler Staat, wird nicht durch ihre Zersplitterung, sondern durch die gegenseitige Eifersucht der europäischen Mächte geschützt. Und trotz dieses mächtigen Schutzes hat auch hie, Schweiz die Nothwendigkeit einer größeren Bundesgewalt gesuhlt; und wer möchte bei der gegenwärtigen Lage der Weltverhältnisse bestreiten, daß sie von einem richtigen Gefühle ge¬ leitet worden ist? Ueber Amerika brauchen wir kein Wort zu verlieren. Kaz» es ist eine Lebensbedingung für jede Nation,, auch für die friedlichste, genüg¬ samste, die Leitung ihrer Bertheidigungsmittel in einer Hand zu. concen- triren. An der Möglichkeit eines Bundesverhältnisses, in dem die politische und militärische Initiative in eine starke Hand gelegt ist, zu zweifeln, fällt uns nicht ein; das hieße an der Zukunft unsrer eignen Nation verzweifeln. Aber, abgesehen von der Unmöglichkeit, jetzt »och, nach der Vertreibung, der italie¬ nischen Fürsten, eine kräftige, Conföderation zu gründen, ist es klar, daß Guizot an ein derartiges Bundesverhältniß gar nicht gedacht hat. Er for¬ dert vielmehr einen Bund, der seine Unabhängigkeit nicht in seiner Stärke, sondern in seiner Schwäche, in der Unmöglichkeit, angreifend aufzutreten, fin¬ den soll. Wir glauben un Gegentheil, daß keine Nation in Europa mehr Ursache hal, ihre Kräfte zu entwickeln und zu concentriren, als die italienische, wenn sie ihre Unabhängigkeit behaupten und nicht blos für den Augenblick, sondern auch für die Zukunft den sie unvermeidlich bedrohenden. Gefahren ge¬ wachsen bleiben will. Denn obschon seiner Natur nach auf eine friedliche Politik angewiesen, ist doch, nächst Deutschland, kein Land Europa's mehr der Gefahr fremder Angriffe und siemder Einmischung ausgesetzt, als Italien; die neueren Ereignisse haben in der Beziehung seine Lage durchaus nicht verbessert. Denn Italien ist noch heut, wie vor 300 Jahren, für die beiden großen Rivalen Oestreich und Frankreich der stets bereite, stets verlockende Kampfplatz, eine offene Wunde im europäischen Staatensysteme, die einen dauernden, auf¬ richtigen Weltfrieden vollkommen unmöglich macht. Dieser unerträglich« Zu¬ stand kann und wird erst dann aufhören, wenn Italien stark genug ist,, jedem der beiden Rivalen die Spitze zu bieten, ohne nöthig zu haben, die Hilfe des andern anzurufen. In Frankreichs Interesse liegt es natürlich, die Erreichung dieses Zieles, d. h. die Emancipirung Italiens von Frankreichs zu hindern, oder wenn dies nicht möglich sein sollte, zu verzögern. Das ist nicht etwa Napoleonische, es ist ächt französische Politik; Orlea>usem, Legitimisten, ja selbst die Republikaner würden, wenn sie am Nuder wären, Italien gegen¬ über keinen andern Standpunkt einnehmen. Guizot's Argumente (und das ist der Hauptpunkt, aus den es bei Beurtheilung, seiner Ansichten ankommt)

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 21, 1862, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341795_113241/322>, abgerufen am 23.07.2024.