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Die Grenzboten. Jg. 21, 1862, I. Semester. I. Band.

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müssen dem französischen Politiker ohne Weiteres einleuchten-, für den Nicht-
franzosen aber entbehren sie gerade deshalb jeder Beweiskraft, oder beweisen
vielmehr das Gegentheil von dem, was sie beweisen sollen. Frankreichs Po¬
litik ist in ihrem innersten Kern organisirt. Auch die friedlichste Regierung,
die das Schwert in der Scheide rösten läßt, der jeder Gedanke an Krieg und
Eroberung ein Greuel ist, wird doch nicht daran denken, völlig dem überaus
anspruchsvollen und weitgreifenden Etwas zu entsagen, welches der Franzose
den legitimen Einfluß Frankreichs in Europa nennt. Um diesen legitimen Ein¬
fluß ohne Waffengewalt sicher zu stellen, ist es nothwendig, die Nachbarlän¬
der in einem Zustande permanenter Schwäche und Zersplitterung zu erhalten,
ihnen den Defcnsivcharakter aufzudrücken. Diesem Principe gemäß erklärte
1848 der republikanische Minister Bastide eine einheitliche Consolidirung
Deutschlands für einen es-sus dslli, sprach der Friedensapostel Lamartine
Piemonts Bestrebungen gegenüber zuerst die berühmte Pfand- und Ausglei¬
chungstheorie aus. Jede Vergrößerung Piemonts alterire die Machtstellung Frank¬
reichs, das für den Fall einer solchen Vergrößerung sofort die Hand auf die
beiden Pfänder. Nizza und Savoyen. zu legen habe. Der Imperialismus
hat es nicht verschmäht, die Theorien des Republikaners praktisch zur Anwen¬
dung zu bringen.

Es besteht für uns gar kein Zweifel darüber, daß Napoleon wesentlich
auf demselben Standpunkte, dem der altfranzösischen Politik, steht, nur daß
er weniger Bedenken als irgend eine der Regierungen seit 1848 trägt, vor¬
kommenden Falles die Ausgleichungßtheorie anzuwenden, und daß er leichter
als eine von ihnen den Uevcrgang aus der Politik des diplomatischen Ein¬
flusses zu der der bewaffneten Einmischung und Eroberung zu finden weiß.
Die Kriegspolitik steht ihm aber erst in zweiter Linie, ist gewissermaßen seine
Reservepolitik, die er gelegentlich, z. B. in der Rede des Prinzen Napoleort.
mit ihrem gan'zen Zubehör von Nationalitätenbefreiung und revolutionärer
Propaganda der Welt als Schreckbild aus der Ferne zeigt, die er aber ent¬
schlossen ist, nur im äußersten Nothfalle zur That werden zu lassen. Der Um¬
stand, daß eine solche Politik, einmal mit Entschiedenheit eingeschlagen, ihn,
da er vor Allem bemüht sein muß. seiner Dynastie eine feste, conservative Grund¬
lage zu geben, zum Führer aller revolutionären Elemente machen und den
Wechselfällen des verzweifeltsten Kampfes preisgeben würde, hält ihn zurück,
den ersten Schritt auf der abschüssigen Bahn anders als unter dem Drucke
eines unwiderstehlichen Zwanges zu thun. Nicht immer lassen sich die geru¬
fenen Geister beschwören, und nicht immer läßt ein.Krieg sich localisiren.

Demnach ist in erster Linie Napoleon's Bestreben, die Einheit Italiens zu
hindern. Das Festhalten der französischen Besatzung in Rom reicht zunächst
aus, um diesen Zweck zu erreichen. Die Maßregel hat außerdem den Vor-


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müssen dem französischen Politiker ohne Weiteres einleuchten-, für den Nicht-
franzosen aber entbehren sie gerade deshalb jeder Beweiskraft, oder beweisen
vielmehr das Gegentheil von dem, was sie beweisen sollen. Frankreichs Po¬
litik ist in ihrem innersten Kern organisirt. Auch die friedlichste Regierung,
die das Schwert in der Scheide rösten läßt, der jeder Gedanke an Krieg und
Eroberung ein Greuel ist, wird doch nicht daran denken, völlig dem überaus
anspruchsvollen und weitgreifenden Etwas zu entsagen, welches der Franzose
den legitimen Einfluß Frankreichs in Europa nennt. Um diesen legitimen Ein¬
fluß ohne Waffengewalt sicher zu stellen, ist es nothwendig, die Nachbarlän¬
der in einem Zustande permanenter Schwäche und Zersplitterung zu erhalten,
ihnen den Defcnsivcharakter aufzudrücken. Diesem Principe gemäß erklärte
1848 der republikanische Minister Bastide eine einheitliche Consolidirung
Deutschlands für einen es-sus dslli, sprach der Friedensapostel Lamartine
Piemonts Bestrebungen gegenüber zuerst die berühmte Pfand- und Ausglei¬
chungstheorie aus. Jede Vergrößerung Piemonts alterire die Machtstellung Frank¬
reichs, das für den Fall einer solchen Vergrößerung sofort die Hand auf die
beiden Pfänder. Nizza und Savoyen. zu legen habe. Der Imperialismus
hat es nicht verschmäht, die Theorien des Republikaners praktisch zur Anwen¬
dung zu bringen.

Es besteht für uns gar kein Zweifel darüber, daß Napoleon wesentlich
auf demselben Standpunkte, dem der altfranzösischen Politik, steht, nur daß
er weniger Bedenken als irgend eine der Regierungen seit 1848 trägt, vor¬
kommenden Falles die Ausgleichungßtheorie anzuwenden, und daß er leichter
als eine von ihnen den Uevcrgang aus der Politik des diplomatischen Ein¬
flusses zu der der bewaffneten Einmischung und Eroberung zu finden weiß.
Die Kriegspolitik steht ihm aber erst in zweiter Linie, ist gewissermaßen seine
Reservepolitik, die er gelegentlich, z. B. in der Rede des Prinzen Napoleort.
mit ihrem gan'zen Zubehör von Nationalitätenbefreiung und revolutionärer
Propaganda der Welt als Schreckbild aus der Ferne zeigt, die er aber ent¬
schlossen ist, nur im äußersten Nothfalle zur That werden zu lassen. Der Um¬
stand, daß eine solche Politik, einmal mit Entschiedenheit eingeschlagen, ihn,
da er vor Allem bemüht sein muß. seiner Dynastie eine feste, conservative Grund¬
lage zu geben, zum Führer aller revolutionären Elemente machen und den
Wechselfällen des verzweifeltsten Kampfes preisgeben würde, hält ihn zurück,
den ersten Schritt auf der abschüssigen Bahn anders als unter dem Drucke
eines unwiderstehlichen Zwanges zu thun. Nicht immer lassen sich die geru¬
fenen Geister beschwören, und nicht immer läßt ein.Krieg sich localisiren.

Demnach ist in erster Linie Napoleon's Bestreben, die Einheit Italiens zu
hindern. Das Festhalten der französischen Besatzung in Rom reicht zunächst
aus, um diesen Zweck zu erreichen. Die Maßregel hat außerdem den Vor-


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[0323] müssen dem französischen Politiker ohne Weiteres einleuchten-, für den Nicht- franzosen aber entbehren sie gerade deshalb jeder Beweiskraft, oder beweisen vielmehr das Gegentheil von dem, was sie beweisen sollen. Frankreichs Po¬ litik ist in ihrem innersten Kern organisirt. Auch die friedlichste Regierung, die das Schwert in der Scheide rösten läßt, der jeder Gedanke an Krieg und Eroberung ein Greuel ist, wird doch nicht daran denken, völlig dem überaus anspruchsvollen und weitgreifenden Etwas zu entsagen, welches der Franzose den legitimen Einfluß Frankreichs in Europa nennt. Um diesen legitimen Ein¬ fluß ohne Waffengewalt sicher zu stellen, ist es nothwendig, die Nachbarlän¬ der in einem Zustande permanenter Schwäche und Zersplitterung zu erhalten, ihnen den Defcnsivcharakter aufzudrücken. Diesem Principe gemäß erklärte 1848 der republikanische Minister Bastide eine einheitliche Consolidirung Deutschlands für einen es-sus dslli, sprach der Friedensapostel Lamartine Piemonts Bestrebungen gegenüber zuerst die berühmte Pfand- und Ausglei¬ chungstheorie aus. Jede Vergrößerung Piemonts alterire die Machtstellung Frank¬ reichs, das für den Fall einer solchen Vergrößerung sofort die Hand auf die beiden Pfänder. Nizza und Savoyen. zu legen habe. Der Imperialismus hat es nicht verschmäht, die Theorien des Republikaners praktisch zur Anwen¬ dung zu bringen. Es besteht für uns gar kein Zweifel darüber, daß Napoleon wesentlich auf demselben Standpunkte, dem der altfranzösischen Politik, steht, nur daß er weniger Bedenken als irgend eine der Regierungen seit 1848 trägt, vor¬ kommenden Falles die Ausgleichungßtheorie anzuwenden, und daß er leichter als eine von ihnen den Uevcrgang aus der Politik des diplomatischen Ein¬ flusses zu der der bewaffneten Einmischung und Eroberung zu finden weiß. Die Kriegspolitik steht ihm aber erst in zweiter Linie, ist gewissermaßen seine Reservepolitik, die er gelegentlich, z. B. in der Rede des Prinzen Napoleort. mit ihrem gan'zen Zubehör von Nationalitätenbefreiung und revolutionärer Propaganda der Welt als Schreckbild aus der Ferne zeigt, die er aber ent¬ schlossen ist, nur im äußersten Nothfalle zur That werden zu lassen. Der Um¬ stand, daß eine solche Politik, einmal mit Entschiedenheit eingeschlagen, ihn, da er vor Allem bemüht sein muß. seiner Dynastie eine feste, conservative Grund¬ lage zu geben, zum Führer aller revolutionären Elemente machen und den Wechselfällen des verzweifeltsten Kampfes preisgeben würde, hält ihn zurück, den ersten Schritt auf der abschüssigen Bahn anders als unter dem Drucke eines unwiderstehlichen Zwanges zu thun. Nicht immer lassen sich die geru¬ fenen Geister beschwören, und nicht immer läßt ein.Krieg sich localisiren. Demnach ist in erster Linie Napoleon's Bestreben, die Einheit Italiens zu hindern. Das Festhalten der französischen Besatzung in Rom reicht zunächst aus, um diesen Zweck zu erreichen. Die Maßregel hat außerdem den Vor- 40*

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 21, 1862, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341795_113241/323>, abgerufen am 23.07.2024.