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Die Grenzboten. Jg. 21, 1862, I. Semester. I. Band.

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Engste mit ihr verknüpft ist, eine der Grundbedingungen der Freiheit der ka¬
tholischen Kirche.

Unsere Bedenken gegen diese jnur in ganz allgemeinen Umrissen wieder¬
gegebene Argumentation richten sich zunächst gegen die, wie uns scheint, aus
einer äußerlichen und unprotestantischen Auffassung hervorgegangene Ansicht
über die Gefahren, welche den inneren Bestand der protestantischen Kirche be¬
drohen sollen. Guizot's Orthodoxie ist, wenn auch zu einer milden und ver-
söhnlichen Praxis geneigt, da sie von der Kirche eine schonende und vor>>ad-
lige Behandlung dlssentirender Richtungen fordert, doch im Princip kaum
weniger ausschließlich, als die der römischen Kirche. Das Dogma ist ihm
die einzige Substanz des religiösen Bewußtseins. Das tiefe Ringen, welches
das Berhältniß von Geist und Natur, Gott und Welt, mit Ernst und vom
Streben nach Wahrheit getrieben, zu ergründen sucht, erscheint ihm, sobald
es mit dem Dogma in Widerspruch geräth, als Manifestation eines irreli¬
giösen Geistes und also als unberechtigt innerhalb der Kirche. Er verkennt,
oder erkennt es wenigstens nicht- genügend an, wie gerade die Arbeit der
Wissenschaft mächtig einwirkt auf die Vertiefung des religiösen Bewußtseins,
das unter der ausschließlichen Herrschaft des Dogma's mehr als einmal der
Gefahr ausgesetzt gewesen ist, zu verknöchern und zu vertrocknen. Die rast¬
lose Thätigkeit der deutschen Wissenschaft auf dem übersinnlichen Gebiete, die
Vertiefung, welche die Frucht jeder wahren und ernsten Arbeit ist, läßt er
unbeachtet. Die religiöse tLntwickiung ist ihm (wenn er es auch nicht mit
den Worten ausspricht) gewissermaßen in den symbolischen Büchern der re-
forumten Kirchen beschlossen.

Wenn der Verfasser die Heilung der kirchlichen Schäden von der Freiheit
der Kirche hofft, so'kann man ihm darin, wenn auch nicht ganz unbedingt,
und vielleicht nicht völlig in seinem Sinne, beistimmen. Die Freiheit der
Kirche ist zunächst ein völlig abstractes, und deshalb sehr vieldeutiges und
von den entgegengesetzten Parteien proclamirtes Princip, aus dem die ver¬
schiedensten concreten Gestaltungen sich ableiten lassen. Wir müssen es des¬
halb, im Widerspruche mit vielen Freunden, beklagen, daß dies Princip viel¬
fach als Norm für die Anordnung der kirchlichen Verhältnisse aufgestellt wor¬
den ist. ehe sich klare und allgemein anerkannte Vorstellungen über die
Vorbedingungen zu einer freiheitlichen Gestaltung der Kirche haben bilden
können. Ob der Kirche, oder um uns bestimmter auszudrücken, dieser oder
.jener protestantischen Landeskirche, die Freiheit zum Segen oder Unsegen ge¬
reichen wird, hängt vorzüglich von der Verfassung derselben ab. Wo der
Staat der Kirche die Freiheit ohne Mitgabe einer das Gemeindeleben wahr¬
haft und durch alle Schichten fördernden Verfassung verleiht, ist die Freiheit
ein Geschenk von zweifelhaftem Werthe, ein oft gefährliches, oft compromit-


Engste mit ihr verknüpft ist, eine der Grundbedingungen der Freiheit der ka¬
tholischen Kirche.

Unsere Bedenken gegen diese jnur in ganz allgemeinen Umrissen wieder¬
gegebene Argumentation richten sich zunächst gegen die, wie uns scheint, aus
einer äußerlichen und unprotestantischen Auffassung hervorgegangene Ansicht
über die Gefahren, welche den inneren Bestand der protestantischen Kirche be¬
drohen sollen. Guizot's Orthodoxie ist, wenn auch zu einer milden und ver-
söhnlichen Praxis geneigt, da sie von der Kirche eine schonende und vor>>ad-
lige Behandlung dlssentirender Richtungen fordert, doch im Princip kaum
weniger ausschließlich, als die der römischen Kirche. Das Dogma ist ihm
die einzige Substanz des religiösen Bewußtseins. Das tiefe Ringen, welches
das Berhältniß von Geist und Natur, Gott und Welt, mit Ernst und vom
Streben nach Wahrheit getrieben, zu ergründen sucht, erscheint ihm, sobald
es mit dem Dogma in Widerspruch geräth, als Manifestation eines irreli¬
giösen Geistes und also als unberechtigt innerhalb der Kirche. Er verkennt,
oder erkennt es wenigstens nicht- genügend an, wie gerade die Arbeit der
Wissenschaft mächtig einwirkt auf die Vertiefung des religiösen Bewußtseins,
das unter der ausschließlichen Herrschaft des Dogma's mehr als einmal der
Gefahr ausgesetzt gewesen ist, zu verknöchern und zu vertrocknen. Die rast¬
lose Thätigkeit der deutschen Wissenschaft auf dem übersinnlichen Gebiete, die
Vertiefung, welche die Frucht jeder wahren und ernsten Arbeit ist, läßt er
unbeachtet. Die religiöse tLntwickiung ist ihm (wenn er es auch nicht mit
den Worten ausspricht) gewissermaßen in den symbolischen Büchern der re-
forumten Kirchen beschlossen.

Wenn der Verfasser die Heilung der kirchlichen Schäden von der Freiheit
der Kirche hofft, so'kann man ihm darin, wenn auch nicht ganz unbedingt,
und vielleicht nicht völlig in seinem Sinne, beistimmen. Die Freiheit der
Kirche ist zunächst ein völlig abstractes, und deshalb sehr vieldeutiges und
von den entgegengesetzten Parteien proclamirtes Princip, aus dem die ver¬
schiedensten concreten Gestaltungen sich ableiten lassen. Wir müssen es des¬
halb, im Widerspruche mit vielen Freunden, beklagen, daß dies Princip viel¬
fach als Norm für die Anordnung der kirchlichen Verhältnisse aufgestellt wor¬
den ist. ehe sich klare und allgemein anerkannte Vorstellungen über die
Vorbedingungen zu einer freiheitlichen Gestaltung der Kirche haben bilden
können. Ob der Kirche, oder um uns bestimmter auszudrücken, dieser oder
.jener protestantischen Landeskirche, die Freiheit zum Segen oder Unsegen ge¬
reichen wird, hängt vorzüglich von der Verfassung derselben ab. Wo der
Staat der Kirche die Freiheit ohne Mitgabe einer das Gemeindeleben wahr¬
haft und durch alle Schichten fördernden Verfassung verleiht, ist die Freiheit
ein Geschenk von zweifelhaftem Werthe, ein oft gefährliches, oft compromit-


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 21, 1862, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341795_113241/312>, abgerufen am 23.07.2024.