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Die Grenzboten. Jg. 21, 1862, I. Semester. I. Band.

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Lösung der großen Fragen, die es behandelt, beitragen wird. Zwar tragen
Guizot's Betrachtungen so sehr den Stempel einer auf lauger Erfahrung und
tiefem Studium begründeten Einsicht, daß man sich ihrer Richtigkeit unmög¬
lich verschließen kann. Aber die Betrachtungen sind zu allgemein, um den
realen Kern der behandelten Fragen zu treffen; sie sind weder umfassend, noch
tief genug, um von einem über dem Parteigetriebe der Gegenwart erhabenen,
geschichtlichen Standpunkte eine Lösung der behandelten Fragen vorzubereiten,
oder auch nur ahnen zu, lassen. Wenn der Verfasser den willkürlichen Gang
der Begebenheiten nach Doctrinen mißt, die in der Natur der Dinge beruhen,
so ist dies offenbar ein ganz richtiges Verfahren; aber wir können Nicht zu¬
geben, daß seine Auffassung der Natur der Dinge überall die richtige ist;
Vor Allem übersieht er, daß die Natur der Dinge selbst nichts unwandelbar
Festes ist, sondern daß sie vielfach durch den Gang der Begebenheiten^ den
sie allerdings im Wesentlichen bestimmen soll, verändert und modiftcirt wird.
Daher gelingt es ihm nicht, seine Kritik vor allen Einwendungen sicher zu
stellen.. Noch viel weniger aber werden wir überzeugt, daß seine positiven
Anschauungen und Rathschlage den in den Verhältnissen liegenden Bedingun¬
gen und Antrieben entsprechen.

Wollten wir die einzelnen vom Verfasser berührte n Gegenstände bespre¬
chen, so müßten wir dem Buche ein Buch, entgegensetzen. Wir begnügen wu-s
daher damit, einige Hauptpunkte hervorzuheben und an ihnen die Ansichten
Guizot's zu beleuchten.

Versuchen, wir, die rein kirchlichen Fragen, so weit es möglich ist, von
den politischen zu trennen. Guizot, von seinem streng dogmatischen Stand¬
punkte ans, sieht eine große Gefahr für die protestantische Kirche in den An¬
griffen, mit denen Rationalismus, Skepticismus, Panthsism.uA ihr innerstes
Lebensprincip bedrohen. Den kräftigen. Angriffen gegenüber ist der Wider
stand, vielfach durch Gleichgiltigkeit und Sorglosigkeit gelähmt, Verhältniße
mäßig schwach. Während so die protestantische Kirche in ihrem inneren Be¬
stände gefährdet wird, ist die katholische Kirche in ihrem äußeren Bestände,
ihrer Verfassung schwer bedroht. Die gegen jede der beiden Sonderkirchen
gerichteten Angriffe erschüttern die gesammte christliche Kirche, woran-s folgt,
daß kein aufrichtiger Anhänger der einen Kirche sich gleichgiltig g.egen die
Leiden der andern verhalten darf. Diese Gefahren können und werden über¬
wunden werden durch die Freiheit der Kirchen ; diese Freiheit aber besteht
nicht sowohl darin, daß den einzelnen Gliedern derselben kein Zwang in ihrem
Gewissen angethan werde, als vielmehr darin, daß die Kirchen selbst ihre
Angelegenheiten nach ihrem Ermessen und gemäß der ihrem Wesen entspre¬
chenden Grundsätze ordnen dürfen. Es ist also die weltliche Souverainetät
des Papstthums, insofern der Bestand des Katholicismus geschichtlich aufs


Lösung der großen Fragen, die es behandelt, beitragen wird. Zwar tragen
Guizot's Betrachtungen so sehr den Stempel einer auf lauger Erfahrung und
tiefem Studium begründeten Einsicht, daß man sich ihrer Richtigkeit unmög¬
lich verschließen kann. Aber die Betrachtungen sind zu allgemein, um den
realen Kern der behandelten Fragen zu treffen; sie sind weder umfassend, noch
tief genug, um von einem über dem Parteigetriebe der Gegenwart erhabenen,
geschichtlichen Standpunkte eine Lösung der behandelten Fragen vorzubereiten,
oder auch nur ahnen zu, lassen. Wenn der Verfasser den willkürlichen Gang
der Begebenheiten nach Doctrinen mißt, die in der Natur der Dinge beruhen,
so ist dies offenbar ein ganz richtiges Verfahren; aber wir können Nicht zu¬
geben, daß seine Auffassung der Natur der Dinge überall die richtige ist;
Vor Allem übersieht er, daß die Natur der Dinge selbst nichts unwandelbar
Festes ist, sondern daß sie vielfach durch den Gang der Begebenheiten^ den
sie allerdings im Wesentlichen bestimmen soll, verändert und modiftcirt wird.
Daher gelingt es ihm nicht, seine Kritik vor allen Einwendungen sicher zu
stellen.. Noch viel weniger aber werden wir überzeugt, daß seine positiven
Anschauungen und Rathschlage den in den Verhältnissen liegenden Bedingun¬
gen und Antrieben entsprechen.

Wollten wir die einzelnen vom Verfasser berührte n Gegenstände bespre¬
chen, so müßten wir dem Buche ein Buch, entgegensetzen. Wir begnügen wu-s
daher damit, einige Hauptpunkte hervorzuheben und an ihnen die Ansichten
Guizot's zu beleuchten.

Versuchen, wir, die rein kirchlichen Fragen, so weit es möglich ist, von
den politischen zu trennen. Guizot, von seinem streng dogmatischen Stand¬
punkte ans, sieht eine große Gefahr für die protestantische Kirche in den An¬
griffen, mit denen Rationalismus, Skepticismus, Panthsism.uA ihr innerstes
Lebensprincip bedrohen. Den kräftigen. Angriffen gegenüber ist der Wider
stand, vielfach durch Gleichgiltigkeit und Sorglosigkeit gelähmt, Verhältniße
mäßig schwach. Während so die protestantische Kirche in ihrem inneren Be¬
stände gefährdet wird, ist die katholische Kirche in ihrem äußeren Bestände,
ihrer Verfassung schwer bedroht. Die gegen jede der beiden Sonderkirchen
gerichteten Angriffe erschüttern die gesammte christliche Kirche, woran-s folgt,
daß kein aufrichtiger Anhänger der einen Kirche sich gleichgiltig g.egen die
Leiden der andern verhalten darf. Diese Gefahren können und werden über¬
wunden werden durch die Freiheit der Kirchen ; diese Freiheit aber besteht
nicht sowohl darin, daß den einzelnen Gliedern derselben kein Zwang in ihrem
Gewissen angethan werde, als vielmehr darin, daß die Kirchen selbst ihre
Angelegenheiten nach ihrem Ermessen und gemäß der ihrem Wesen entspre¬
chenden Grundsätze ordnen dürfen. Es ist also die weltliche Souverainetät
des Papstthums, insofern der Bestand des Katholicismus geschichtlich aufs


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[0311] Lösung der großen Fragen, die es behandelt, beitragen wird. Zwar tragen Guizot's Betrachtungen so sehr den Stempel einer auf lauger Erfahrung und tiefem Studium begründeten Einsicht, daß man sich ihrer Richtigkeit unmög¬ lich verschließen kann. Aber die Betrachtungen sind zu allgemein, um den realen Kern der behandelten Fragen zu treffen; sie sind weder umfassend, noch tief genug, um von einem über dem Parteigetriebe der Gegenwart erhabenen, geschichtlichen Standpunkte eine Lösung der behandelten Fragen vorzubereiten, oder auch nur ahnen zu, lassen. Wenn der Verfasser den willkürlichen Gang der Begebenheiten nach Doctrinen mißt, die in der Natur der Dinge beruhen, so ist dies offenbar ein ganz richtiges Verfahren; aber wir können Nicht zu¬ geben, daß seine Auffassung der Natur der Dinge überall die richtige ist; Vor Allem übersieht er, daß die Natur der Dinge selbst nichts unwandelbar Festes ist, sondern daß sie vielfach durch den Gang der Begebenheiten^ den sie allerdings im Wesentlichen bestimmen soll, verändert und modiftcirt wird. Daher gelingt es ihm nicht, seine Kritik vor allen Einwendungen sicher zu stellen.. Noch viel weniger aber werden wir überzeugt, daß seine positiven Anschauungen und Rathschlage den in den Verhältnissen liegenden Bedingun¬ gen und Antrieben entsprechen. Wollten wir die einzelnen vom Verfasser berührte n Gegenstände bespre¬ chen, so müßten wir dem Buche ein Buch, entgegensetzen. Wir begnügen wu-s daher damit, einige Hauptpunkte hervorzuheben und an ihnen die Ansichten Guizot's zu beleuchten. Versuchen, wir, die rein kirchlichen Fragen, so weit es möglich ist, von den politischen zu trennen. Guizot, von seinem streng dogmatischen Stand¬ punkte ans, sieht eine große Gefahr für die protestantische Kirche in den An¬ griffen, mit denen Rationalismus, Skepticismus, Panthsism.uA ihr innerstes Lebensprincip bedrohen. Den kräftigen. Angriffen gegenüber ist der Wider stand, vielfach durch Gleichgiltigkeit und Sorglosigkeit gelähmt, Verhältniße mäßig schwach. Während so die protestantische Kirche in ihrem inneren Be¬ stände gefährdet wird, ist die katholische Kirche in ihrem äußeren Bestände, ihrer Verfassung schwer bedroht. Die gegen jede der beiden Sonderkirchen gerichteten Angriffe erschüttern die gesammte christliche Kirche, woran-s folgt, daß kein aufrichtiger Anhänger der einen Kirche sich gleichgiltig g.egen die Leiden der andern verhalten darf. Diese Gefahren können und werden über¬ wunden werden durch die Freiheit der Kirchen ; diese Freiheit aber besteht nicht sowohl darin, daß den einzelnen Gliedern derselben kein Zwang in ihrem Gewissen angethan werde, als vielmehr darin, daß die Kirchen selbst ihre Angelegenheiten nach ihrem Ermessen und gemäß der ihrem Wesen entspre¬ chenden Grundsätze ordnen dürfen. Es ist also die weltliche Souverainetät des Papstthums, insofern der Bestand des Katholicismus geschichtlich aufs

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 21, 1862, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341795_113241/311>, abgerufen am 23.07.2024.