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Die Grenzboten. Jg. 21, 1862, I. Semester. I. Band.

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unbedingte Uebertragbarkeit auf die Sudgermanen, die Deutschen immer mehr
Problematisch wird, je reichere Kenntniß wir von der deutschen Götterwelt im
engeren Sinne gewinnen. Für diese letztere aber haben wir an schriftlichen
Quellen fast nur einzelne, abgerissene Notizen in den Heiligenleben, den Be-
kehrungslegenden und hier und da in einer Geschichtsquelle. Der bei weitem
größere Theil des Materials steckt in jenen erwähnten lebendigen Quellen und
muß erst mühsam zusammen getragen werden. Es ist aber siedet die größte
Gefahr im Verzüge. Denn überall sind diese lebendigen Quellen im Begriff
zu versiegen, abzusterben: die alten Lieder und Sagen, die Sprüche, Spiele
und abergläubischen Gebräuche werden allenthalben vergessen, und gerade
unsere Zeit, welche die Sommerfrischler. die^Curgäste in alle Winkel unserer
Berge, auf alle Inseln unserer Meere führt, trägt zum Erlöschen dieser Un¬
mittelbarkeiten mehr als irgend eine frühere bei. Dies ist zu beklagen, aber
nicht zu ändern: jedenfalls sind unsere Tage die letzte Nachlcsezeit auf den
Stoppelfeldern dieses ganzen Gebiets. Es ist richtig, daß, Gott sei Dank!
noch so viel Anschauung. Poesie, Phantasie in unsrem Volke steckt, daß es
auch heute noch neue Sagen erzeugt, wenn ihm bedeutende Persönlichkeiten
oder überraschende Erfindungen einen mächtigen Eindruck machen, wie wir
denn in unsern Tagen Napoleons-Sagen, Elsenbahnsagen u. s. w., haben
neu entstehen sehen. Aber natürlich kann uns diese moderne Sagenbildung
über alte Mythologie gar nicht oder doch nur sehr mittelbar dadurch belehren,
daß sie uns in die Gesetze der Sagenbildung selbst einen Blick werfen läßt.
Deshalb thut fleißiges Sammeln des Stoffes noth, der heute noch reichlich
zu finden ist und in der nächsten Generation schon unvergleichlich seltner zu
treffen sein wird. Auch hat das allzurasche Erklären und Construiren die Ge¬
fahr der willkürlichen Erklärung zur unvermeidlichen Begleiterin.

Gleichwohl läßt sich auch hier das construirende von dem sammelnden
Denken nicht absolut scheiden, ja zum richtigen Sammeln selbst wird ein
gewisses Schichten und Scheiden des Stoffes, ein gewisses Streben nach lei¬
tenden Gesichtspunkten unentbehrlich sein, und nur in diesem Sinne, nicht im
Sinne einer Detaildeutung, sondern in der Absicht, einen der wichtigsten Ge¬
sichtspunkte für die Gruppirung des Stoffes hervorzuheben, soll im Nachste¬
henden das symbolische Element in der deutschen Mythologie untersucht
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Dabei bedarf es vor Allem einer Definition von "Symbolik." Denn
leicht könnte diesem Wort eine zu weit greifende Bedeutung beigelegt werden:
man könnte etwa alle bildliche, umschreibende, figürliche Ausdrucksweise eine
symbolische nennen. In diesem ungebührlich weiten Sinn wäre aber die
ganze Mythologie nichts als eitel Symbolik. Denn das Medium bei der
Bildung aller mythologischen Vorstellungen ist die Phantasie; also dasselbe,


Grenjboten I. 1362, , 14

unbedingte Uebertragbarkeit auf die Sudgermanen, die Deutschen immer mehr
Problematisch wird, je reichere Kenntniß wir von der deutschen Götterwelt im
engeren Sinne gewinnen. Für diese letztere aber haben wir an schriftlichen
Quellen fast nur einzelne, abgerissene Notizen in den Heiligenleben, den Be-
kehrungslegenden und hier und da in einer Geschichtsquelle. Der bei weitem
größere Theil des Materials steckt in jenen erwähnten lebendigen Quellen und
muß erst mühsam zusammen getragen werden. Es ist aber siedet die größte
Gefahr im Verzüge. Denn überall sind diese lebendigen Quellen im Begriff
zu versiegen, abzusterben: die alten Lieder und Sagen, die Sprüche, Spiele
und abergläubischen Gebräuche werden allenthalben vergessen, und gerade
unsere Zeit, welche die Sommerfrischler. die^Curgäste in alle Winkel unserer
Berge, auf alle Inseln unserer Meere führt, trägt zum Erlöschen dieser Un¬
mittelbarkeiten mehr als irgend eine frühere bei. Dies ist zu beklagen, aber
nicht zu ändern: jedenfalls sind unsere Tage die letzte Nachlcsezeit auf den
Stoppelfeldern dieses ganzen Gebiets. Es ist richtig, daß, Gott sei Dank!
noch so viel Anschauung. Poesie, Phantasie in unsrem Volke steckt, daß es
auch heute noch neue Sagen erzeugt, wenn ihm bedeutende Persönlichkeiten
oder überraschende Erfindungen einen mächtigen Eindruck machen, wie wir
denn in unsern Tagen Napoleons-Sagen, Elsenbahnsagen u. s. w., haben
neu entstehen sehen. Aber natürlich kann uns diese moderne Sagenbildung
über alte Mythologie gar nicht oder doch nur sehr mittelbar dadurch belehren,
daß sie uns in die Gesetze der Sagenbildung selbst einen Blick werfen läßt.
Deshalb thut fleißiges Sammeln des Stoffes noth, der heute noch reichlich
zu finden ist und in der nächsten Generation schon unvergleichlich seltner zu
treffen sein wird. Auch hat das allzurasche Erklären und Construiren die Ge¬
fahr der willkürlichen Erklärung zur unvermeidlichen Begleiterin.

Gleichwohl läßt sich auch hier das construirende von dem sammelnden
Denken nicht absolut scheiden, ja zum richtigen Sammeln selbst wird ein
gewisses Schichten und Scheiden des Stoffes, ein gewisses Streben nach lei¬
tenden Gesichtspunkten unentbehrlich sein, und nur in diesem Sinne, nicht im
Sinne einer Detaildeutung, sondern in der Absicht, einen der wichtigsten Ge¬
sichtspunkte für die Gruppirung des Stoffes hervorzuheben, soll im Nachste¬
henden das symbolische Element in der deutschen Mythologie untersucht
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Dabei bedarf es vor Allem einer Definition von „Symbolik." Denn
leicht könnte diesem Wort eine zu weit greifende Bedeutung beigelegt werden:
man könnte etwa alle bildliche, umschreibende, figürliche Ausdrucksweise eine
symbolische nennen. In diesem ungebührlich weiten Sinn wäre aber die
ganze Mythologie nichts als eitel Symbolik. Denn das Medium bei der
Bildung aller mythologischen Vorstellungen ist die Phantasie; also dasselbe,


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[0113] unbedingte Uebertragbarkeit auf die Sudgermanen, die Deutschen immer mehr Problematisch wird, je reichere Kenntniß wir von der deutschen Götterwelt im engeren Sinne gewinnen. Für diese letztere aber haben wir an schriftlichen Quellen fast nur einzelne, abgerissene Notizen in den Heiligenleben, den Be- kehrungslegenden und hier und da in einer Geschichtsquelle. Der bei weitem größere Theil des Materials steckt in jenen erwähnten lebendigen Quellen und muß erst mühsam zusammen getragen werden. Es ist aber siedet die größte Gefahr im Verzüge. Denn überall sind diese lebendigen Quellen im Begriff zu versiegen, abzusterben: die alten Lieder und Sagen, die Sprüche, Spiele und abergläubischen Gebräuche werden allenthalben vergessen, und gerade unsere Zeit, welche die Sommerfrischler. die^Curgäste in alle Winkel unserer Berge, auf alle Inseln unserer Meere führt, trägt zum Erlöschen dieser Un¬ mittelbarkeiten mehr als irgend eine frühere bei. Dies ist zu beklagen, aber nicht zu ändern: jedenfalls sind unsere Tage die letzte Nachlcsezeit auf den Stoppelfeldern dieses ganzen Gebiets. Es ist richtig, daß, Gott sei Dank! noch so viel Anschauung. Poesie, Phantasie in unsrem Volke steckt, daß es auch heute noch neue Sagen erzeugt, wenn ihm bedeutende Persönlichkeiten oder überraschende Erfindungen einen mächtigen Eindruck machen, wie wir denn in unsern Tagen Napoleons-Sagen, Elsenbahnsagen u. s. w., haben neu entstehen sehen. Aber natürlich kann uns diese moderne Sagenbildung über alte Mythologie gar nicht oder doch nur sehr mittelbar dadurch belehren, daß sie uns in die Gesetze der Sagenbildung selbst einen Blick werfen läßt. Deshalb thut fleißiges Sammeln des Stoffes noth, der heute noch reichlich zu finden ist und in der nächsten Generation schon unvergleichlich seltner zu treffen sein wird. Auch hat das allzurasche Erklären und Construiren die Ge¬ fahr der willkürlichen Erklärung zur unvermeidlichen Begleiterin. Gleichwohl läßt sich auch hier das construirende von dem sammelnden Denken nicht absolut scheiden, ja zum richtigen Sammeln selbst wird ein gewisses Schichten und Scheiden des Stoffes, ein gewisses Streben nach lei¬ tenden Gesichtspunkten unentbehrlich sein, und nur in diesem Sinne, nicht im Sinne einer Detaildeutung, sondern in der Absicht, einen der wichtigsten Ge¬ sichtspunkte für die Gruppirung des Stoffes hervorzuheben, soll im Nachste¬ henden das symbolische Element in der deutschen Mythologie untersucht lMlM^,^ , , . , t'->, jr.N?I?M"l!^ ^, i> Dabei bedarf es vor Allem einer Definition von „Symbolik." Denn leicht könnte diesem Wort eine zu weit greifende Bedeutung beigelegt werden: man könnte etwa alle bildliche, umschreibende, figürliche Ausdrucksweise eine symbolische nennen. In diesem ungebührlich weiten Sinn wäre aber die ganze Mythologie nichts als eitel Symbolik. Denn das Medium bei der Bildung aller mythologischen Vorstellungen ist die Phantasie; also dasselbe, Grenjboten I. 1362, , 14

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 21, 1862, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341795_113241/113>, abgerufen am 28.12.2024.