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Die Grenzboten. Jg. 20, 1861, II. Semester. IV. Band.

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vergessen konnte. In der That unverantwortlich! Und überdies, wer wüßte
nicht in Betreff der Frauen, daß es Leute gibt, die sich nicht mit ihnen ver¬
tragen, und andere, denen sie nicht bekommen, und wem wären nicht Bei¬
spiele von Krankheiten bekannt, die von unverdaulichen Melonen herrührten;
wer aber in aller Welt hätte jemals derartige Klagen gegen unsere Freun¬
dinnen hier vorbringen hören? Und jetzt vernehmen Sie die Moral von der
Sache mit den Worten jenes französischen Denkers von vorhin: ""Das, was
uns beim Austernverspeisen fortwährend vergnügt und heiter sein läßt, ist
die Thatsache, daß, während gastrische Verstimmungen ferngehalten werden,
die Seele weder durch Wünsche beunruhigt ^ noch durch Befürchtungen für
die Zukunft störend angereizt wird. Man verzehrt sie in der vollen und durch
nichts getrübten Sicherheit, daß die Gesundheit nicht im Entferntesten dadurch
compromittirt werden kann, stürzte man sich selbst in jenen Abgrund, den
wir Ueberfüllung nennen."" Austerngenuß ist also, wie Sie sehen, ein so-
wol physisch als moralisch gesundes und heilsames Vornehmen."

Ich sah das in der That ein und beschloß darnach so viel als möglich
zu leben, wagte indeß gegen den ersten Theil seiner Beweisführung die be¬
scheidene Einwendung, daß die Auster von Manchen für nicht mit besondern
Verstandeskräften begabt gehalten werde, und daß man bei seiner Behauptung,
durch Austerngenuß werde die Austernatur angezogen, Gefahr laufe sich mit
der frommen sriedensscligen Stimmung der Auster auch jenen Mangel anzu¬
eignen.

"Das hab' ich gedacht," erwiderte er in einiger Aufregung. "Sagen
Sie nur gleich, daß man sie für einfältig, für dumm halt. Undank ist der
Welt Lohn, und gegessen Brot ist bald vergessen. Von den Tagen jenes
großen und kühnen Menschen, der die erste Auster verschlang -- ich hoffe, es
war ein Deutscher; denn von diesen gingen alle heilsamen Entdeckungen aus
-- von den Tagen des ersten Ostreophagen bis auf unser Souper hat alle
Welt, wenigstens durch stilles Entzücken, anerkannt, daß nichts so saftig, so
nahrhaft ist, daß nichts einem Glas "Kalt' s,na KM", Double Stone oder
Chablis so viel Weihe verleiht, als eine wohlgemäsiete Auster, gleichviel ob
Colchester, Ostende oder Cancale ihre Wiege war. Ebenso alt aber als dieser
gerechte Tribut, den selige Stimmung der physischen Trefflichkeit unsrer illustren
Muschel zollt, ist der höchst unbillige und inhumane Vorwurf intellektueller
Jnfenorität. So dumm wie eine Auster, sagt der grobe Englishman, ohne
zu bedenken, wie schwer er sich damit versündigt, und in Frankreich, wo man's
besser wissen sollte, drücken sie dasselbe durch die Redensart aus: o'est uns
Kultre a 1'öCiMiz. Wie oft habe ich gebildete Deutsche von Leuten, deren
Denkvermögen sie als schwach bezeichnen wollten, die Redensart brauchen
hören: er argumentire wie eine Auster, wie oft in den Zeiten unbesonnener


vergessen konnte. In der That unverantwortlich! Und überdies, wer wüßte
nicht in Betreff der Frauen, daß es Leute gibt, die sich nicht mit ihnen ver¬
tragen, und andere, denen sie nicht bekommen, und wem wären nicht Bei¬
spiele von Krankheiten bekannt, die von unverdaulichen Melonen herrührten;
wer aber in aller Welt hätte jemals derartige Klagen gegen unsere Freun¬
dinnen hier vorbringen hören? Und jetzt vernehmen Sie die Moral von der
Sache mit den Worten jenes französischen Denkers von vorhin: „„Das, was
uns beim Austernverspeisen fortwährend vergnügt und heiter sein läßt, ist
die Thatsache, daß, während gastrische Verstimmungen ferngehalten werden,
die Seele weder durch Wünsche beunruhigt ^ noch durch Befürchtungen für
die Zukunft störend angereizt wird. Man verzehrt sie in der vollen und durch
nichts getrübten Sicherheit, daß die Gesundheit nicht im Entferntesten dadurch
compromittirt werden kann, stürzte man sich selbst in jenen Abgrund, den
wir Ueberfüllung nennen."" Austerngenuß ist also, wie Sie sehen, ein so-
wol physisch als moralisch gesundes und heilsames Vornehmen."

Ich sah das in der That ein und beschloß darnach so viel als möglich
zu leben, wagte indeß gegen den ersten Theil seiner Beweisführung die be¬
scheidene Einwendung, daß die Auster von Manchen für nicht mit besondern
Verstandeskräften begabt gehalten werde, und daß man bei seiner Behauptung,
durch Austerngenuß werde die Austernatur angezogen, Gefahr laufe sich mit
der frommen sriedensscligen Stimmung der Auster auch jenen Mangel anzu¬
eignen.

„Das hab' ich gedacht," erwiderte er in einiger Aufregung. „Sagen
Sie nur gleich, daß man sie für einfältig, für dumm halt. Undank ist der
Welt Lohn, und gegessen Brot ist bald vergessen. Von den Tagen jenes
großen und kühnen Menschen, der die erste Auster verschlang — ich hoffe, es
war ein Deutscher; denn von diesen gingen alle heilsamen Entdeckungen aus
— von den Tagen des ersten Ostreophagen bis auf unser Souper hat alle
Welt, wenigstens durch stilles Entzücken, anerkannt, daß nichts so saftig, so
nahrhaft ist, daß nichts einem Glas „Kalt' s,na KM", Double Stone oder
Chablis so viel Weihe verleiht, als eine wohlgemäsiete Auster, gleichviel ob
Colchester, Ostende oder Cancale ihre Wiege war. Ebenso alt aber als dieser
gerechte Tribut, den selige Stimmung der physischen Trefflichkeit unsrer illustren
Muschel zollt, ist der höchst unbillige und inhumane Vorwurf intellektueller
Jnfenorität. So dumm wie eine Auster, sagt der grobe Englishman, ohne
zu bedenken, wie schwer er sich damit versündigt, und in Frankreich, wo man's
besser wissen sollte, drücken sie dasselbe durch die Redensart aus: o'est uns
Kultre a 1'öCiMiz. Wie oft habe ich gebildete Deutsche von Leuten, deren
Denkvermögen sie als schwach bezeichnen wollten, die Redensart brauchen
hören: er argumentire wie eine Auster, wie oft in den Zeiten unbesonnener


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 20, 1861, II. Semester. IV. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341793_112507/420>, abgerufen am 23.07.2024.