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Die Grenzboten. Jg. 20, 1861, II. Semester. IV. Band.

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gehört hatte. Es liegt auf der Hand, daß Gericault an dergleichen nicht
dachte. Er hatte sich nach einem Stoffe umgesehen, der noch im frischen An¬
denken auf das Gemüth eine lebhafte Wirkung machte: an dem er den un-
gebändigten Ausdruck der leidenschaftlich aufgeregten Seele in den mannig¬
faltigsten Abstufungen, die natürliche Schönheit des menschlichen Körpers in
seinen zufälligen Bewegungen unter dem Einfluß einer tragischen Situation
zur Erscheinung bringen könnte. Für seinen Zweck konnte er nicht besser wäh¬
len. Die Schiffbrüchigen auf dem Flosse dem wilden Elemente preisgegeben,
zum Theil schon dem Kampfe mit dem Tode unterliegend, zum Asen aus
der tiefsten Verzweiflung mit der letzten Kraft zur Hoffnung sich aufraffend,
um einem fern vorüberziehenden Schiffe ein Signal zu geben; Einer mit in¬
brünstigen Flehen, ein Anderer den schon Verzagenden aufmunternd, ein Vierter
im Schmerz theilnahmlos versunken, jene elastisch sich aufschwingend, diese
mühsam vom Boden sich erhebend, dort ein Vater im stummen Jammer nur
mit dem Leichnam des Sohnes beschäftigt, hier Andere schon vom Krampf
der Noth in der Ruhe des Todes erlöst. Die ganze Stufenleiter der heftig¬
sten Empfindungen ist hier unverholen ausgedrückt, die Natur ganz und
unverhüllt wiedergegeben, denn die Nähe des Verderbens hebt jede künstliche
Sitte auf. Man sieht, wie in so furchtbaren Augenblicken jeder Einzelne nur
für sich lebt, abgeschlossen von den Andern, und doch verschlingt sie die ge¬
meinsame Gefahr und die gemeinsame Hoffnung zu verschiedenen Gruppen,
die sich ungezwungen zu einem Ganzen verbinden. So baut sich die
Scene bis zu der Gruppe der Hilfcflehenden wie von selbst mit ergreifen¬
der Wahrheit auf, und eben deshalb ist die Anordnung künstlerisch. Hat"
tung und Bewegung sind durchweg wahr und natürlich, ganz von der
Bestimmtheit des Momentes gegeben, dabei wieder durch die Verschiedenheit
der Empfindungen von der größten Mannigfaltigkeit. Entweder bekleidet oder
ganz nackt, wie es der Zufall der letzten Tage gewollt, zeigt sich die körperliche
Form in allen Stellungen des Lebens und des Todes mit wahrer Virtuosität
behandelt. Gericault war sich über alle Momente seiner Aufgabe vollkommen
klar gewesen und hatte sie mit dem ganzen Aufwande seines großen und
tüchtig gebildeten Talentes gelöst. Vielleicht ist der Vorwurf nicht ungegrün-
det. daß sich der Künstler Lagen suchte, in denen er sein Können vollkommen
bewähren konnte. In der Farbe freilich zeigt sich nicht die gleiche Meister¬
schaft, wie in der Form und dem Ausdruck. Schon seine Reiterbilder hatten
einen schweren und bei aller Sattheit doch farblosen Ton und in dem rs-ahau
geben die schwarzen Schatten, die eine Erinnerung an Caravaggio zu sein
scheinen, dem Fleische etwas Hartes und steinartiges, wodurch der einförmige
Eindruck des Grauen noch erhöht wird.

Das Bild war die offene Kriegserklärung gegen die David'sche Schule


gehört hatte. Es liegt auf der Hand, daß Gericault an dergleichen nicht
dachte. Er hatte sich nach einem Stoffe umgesehen, der noch im frischen An¬
denken auf das Gemüth eine lebhafte Wirkung machte: an dem er den un-
gebändigten Ausdruck der leidenschaftlich aufgeregten Seele in den mannig¬
faltigsten Abstufungen, die natürliche Schönheit des menschlichen Körpers in
seinen zufälligen Bewegungen unter dem Einfluß einer tragischen Situation
zur Erscheinung bringen könnte. Für seinen Zweck konnte er nicht besser wäh¬
len. Die Schiffbrüchigen auf dem Flosse dem wilden Elemente preisgegeben,
zum Theil schon dem Kampfe mit dem Tode unterliegend, zum Asen aus
der tiefsten Verzweiflung mit der letzten Kraft zur Hoffnung sich aufraffend,
um einem fern vorüberziehenden Schiffe ein Signal zu geben; Einer mit in¬
brünstigen Flehen, ein Anderer den schon Verzagenden aufmunternd, ein Vierter
im Schmerz theilnahmlos versunken, jene elastisch sich aufschwingend, diese
mühsam vom Boden sich erhebend, dort ein Vater im stummen Jammer nur
mit dem Leichnam des Sohnes beschäftigt, hier Andere schon vom Krampf
der Noth in der Ruhe des Todes erlöst. Die ganze Stufenleiter der heftig¬
sten Empfindungen ist hier unverholen ausgedrückt, die Natur ganz und
unverhüllt wiedergegeben, denn die Nähe des Verderbens hebt jede künstliche
Sitte auf. Man sieht, wie in so furchtbaren Augenblicken jeder Einzelne nur
für sich lebt, abgeschlossen von den Andern, und doch verschlingt sie die ge¬
meinsame Gefahr und die gemeinsame Hoffnung zu verschiedenen Gruppen,
die sich ungezwungen zu einem Ganzen verbinden. So baut sich die
Scene bis zu der Gruppe der Hilfcflehenden wie von selbst mit ergreifen¬
der Wahrheit auf, und eben deshalb ist die Anordnung künstlerisch. Hat«
tung und Bewegung sind durchweg wahr und natürlich, ganz von der
Bestimmtheit des Momentes gegeben, dabei wieder durch die Verschiedenheit
der Empfindungen von der größten Mannigfaltigkeit. Entweder bekleidet oder
ganz nackt, wie es der Zufall der letzten Tage gewollt, zeigt sich die körperliche
Form in allen Stellungen des Lebens und des Todes mit wahrer Virtuosität
behandelt. Gericault war sich über alle Momente seiner Aufgabe vollkommen
klar gewesen und hatte sie mit dem ganzen Aufwande seines großen und
tüchtig gebildeten Talentes gelöst. Vielleicht ist der Vorwurf nicht ungegrün-
det. daß sich der Künstler Lagen suchte, in denen er sein Können vollkommen
bewähren konnte. In der Farbe freilich zeigt sich nicht die gleiche Meister¬
schaft, wie in der Form und dem Ausdruck. Schon seine Reiterbilder hatten
einen schweren und bei aller Sattheit doch farblosen Ton und in dem rs-ahau
geben die schwarzen Schatten, die eine Erinnerung an Caravaggio zu sein
scheinen, dem Fleische etwas Hartes und steinartiges, wodurch der einförmige
Eindruck des Grauen noch erhöht wird.

Das Bild war die offene Kriegserklärung gegen die David'sche Schule


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[0041] gehört hatte. Es liegt auf der Hand, daß Gericault an dergleichen nicht dachte. Er hatte sich nach einem Stoffe umgesehen, der noch im frischen An¬ denken auf das Gemüth eine lebhafte Wirkung machte: an dem er den un- gebändigten Ausdruck der leidenschaftlich aufgeregten Seele in den mannig¬ faltigsten Abstufungen, die natürliche Schönheit des menschlichen Körpers in seinen zufälligen Bewegungen unter dem Einfluß einer tragischen Situation zur Erscheinung bringen könnte. Für seinen Zweck konnte er nicht besser wäh¬ len. Die Schiffbrüchigen auf dem Flosse dem wilden Elemente preisgegeben, zum Theil schon dem Kampfe mit dem Tode unterliegend, zum Asen aus der tiefsten Verzweiflung mit der letzten Kraft zur Hoffnung sich aufraffend, um einem fern vorüberziehenden Schiffe ein Signal zu geben; Einer mit in¬ brünstigen Flehen, ein Anderer den schon Verzagenden aufmunternd, ein Vierter im Schmerz theilnahmlos versunken, jene elastisch sich aufschwingend, diese mühsam vom Boden sich erhebend, dort ein Vater im stummen Jammer nur mit dem Leichnam des Sohnes beschäftigt, hier Andere schon vom Krampf der Noth in der Ruhe des Todes erlöst. Die ganze Stufenleiter der heftig¬ sten Empfindungen ist hier unverholen ausgedrückt, die Natur ganz und unverhüllt wiedergegeben, denn die Nähe des Verderbens hebt jede künstliche Sitte auf. Man sieht, wie in so furchtbaren Augenblicken jeder Einzelne nur für sich lebt, abgeschlossen von den Andern, und doch verschlingt sie die ge¬ meinsame Gefahr und die gemeinsame Hoffnung zu verschiedenen Gruppen, die sich ungezwungen zu einem Ganzen verbinden. So baut sich die Scene bis zu der Gruppe der Hilfcflehenden wie von selbst mit ergreifen¬ der Wahrheit auf, und eben deshalb ist die Anordnung künstlerisch. Hat« tung und Bewegung sind durchweg wahr und natürlich, ganz von der Bestimmtheit des Momentes gegeben, dabei wieder durch die Verschiedenheit der Empfindungen von der größten Mannigfaltigkeit. Entweder bekleidet oder ganz nackt, wie es der Zufall der letzten Tage gewollt, zeigt sich die körperliche Form in allen Stellungen des Lebens und des Todes mit wahrer Virtuosität behandelt. Gericault war sich über alle Momente seiner Aufgabe vollkommen klar gewesen und hatte sie mit dem ganzen Aufwande seines großen und tüchtig gebildeten Talentes gelöst. Vielleicht ist der Vorwurf nicht ungegrün- det. daß sich der Künstler Lagen suchte, in denen er sein Können vollkommen bewähren konnte. In der Farbe freilich zeigt sich nicht die gleiche Meister¬ schaft, wie in der Form und dem Ausdruck. Schon seine Reiterbilder hatten einen schweren und bei aller Sattheit doch farblosen Ton und in dem rs-ahau geben die schwarzen Schatten, die eine Erinnerung an Caravaggio zu sein scheinen, dem Fleische etwas Hartes und steinartiges, wodurch der einförmige Eindruck des Grauen noch erhöht wird. Das Bild war die offene Kriegserklärung gegen die David'sche Schule

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 20, 1861, II. Semester. IV. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341793_112507/41>, abgerufen am 27.12.2024.