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Die Grenzboten. Jg. 20, 1861, II. Semester. IV. Band.

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Vor Tieck's Werken hatte Raumer' durchweg die größte Verehrung; ein¬
mal, 1. Dec. 1831, steigt seine Begeisterung vor einer der Tieck'schen Novellen
so hoch, daß er ausruft: "Alles, was seit Romeo bis Werther von un¬
glücklicher Liebe gedichtet^ oder gefaselt ward, ist nur ein Nippen an einem
Honigkelche im Vergleich mit dieser Geschichte!" -- Freilich wird Tieck auch
einmal stutzig, als er bemerkt, wie mild Raumer über alle Dinge urtheilt,
und fürchtet, daß die Freundschaft in seiner Kritik eine zu große Stimme habe.

Diese allgemeine Milde wird nur in einzelnen Fällen unterbrochen. Mit
einer besonderen Malice wird durchweg Niebuhr besprochen, und zwar in
allen Zweigen seiner Thätigkeit; obgleich er dann wieder in späterem Lebens¬
alter ein Niese unter Zwergen genannt w>rd. Von Schloezer wird 20. Aug.
1802 behauptet, er wisse keine andere Folge der Entdeckung von Amerika
anzugeben, als daß >nan jetzt mit Indigo statt mit Wald färbe; daß ihm die
Reformation nur darum wichtig erscheine. weil man seitdem weniger
Wachslicht verbrenne und weniger Fische esse. -- Erfreulicher ist eine Kritik
Fichte's, Band 1. Seite 203 -- 213. welche wir allen denjenigen empfehlen,
die heute Fichte für den größten Philosophen ausgeben möchten, weil er ein
großer Redner und strenger Moralist war. Wo Fichte ins Positive des
Staatslebens eingeht, ist seine Anschauung von einer grenzenlosen Armuth
und Einseitigkeit, und es war für die Praxis ein Glück, daß seine Einseitig¬
keit so kolossal in die Augen sprang; sonst hätte er am Ende noch Schule
gemacht. -- Auch über Adam Müller wird mit gerechter Strenge geurtheilt.

In Raumer's politischen und religiösen Ansichten findet man, seiner be¬
weglichen Natur wegen, ein häufiges Schwanken, was aber keineswegs aus,
schließt, daß seine Gesinnung im Großen und Ganzen dieselbe bleibt. Goethe
sagt einmal von Wieland, der geistreiche Mann spielte gern mit seinen Mei¬
nungen, aber niemals mit seinen Gesinnungen; dasselbe kann man von Rau-
wer sagen. In seiner italienischen Reise, 1817, dominirt die romantische
Stimmung, von der sich auch in den Hohenstaufen noch Nachklänge finden;
er nimmt einen hohen religiösen Schwung. In einem Brief an seinen Va^
ter, is. August 1818, spricht er sich leidenschaftlich reactwnär aus. "In
der That ist ein Hauptbemühen aller meiner Vorlesungen, die unseligen
revolutionären Grundsätze, die sich oben und unten in tausend verschiedenen
Gestaltungen fast in allen Ländern Europas blicken lassen und unendlich rei¬
zender, geistreicher, natürlicher erscheinen, als das alte Hauskleid bürgerlicher
Ruhe und genügsamer Zufriedenheit, jene Grundsätze zu bekämpfen und
durch alle denkbaren Gründe des Verstandes und tausende von geschichtlichen
Beispielen zu widerlegen. Es ist aber damit, wie mit der Kur eines Band¬
wurms: bleibt auch nur ein fingerlanges Stück zurück, so wächst das Uebel
allmächtig zur alten Größe hinan, und Niemand hält es für möglich, daß aus


Vor Tieck's Werken hatte Raumer' durchweg die größte Verehrung; ein¬
mal, 1. Dec. 1831, steigt seine Begeisterung vor einer der Tieck'schen Novellen
so hoch, daß er ausruft: „Alles, was seit Romeo bis Werther von un¬
glücklicher Liebe gedichtet^ oder gefaselt ward, ist nur ein Nippen an einem
Honigkelche im Vergleich mit dieser Geschichte!" — Freilich wird Tieck auch
einmal stutzig, als er bemerkt, wie mild Raumer über alle Dinge urtheilt,
und fürchtet, daß die Freundschaft in seiner Kritik eine zu große Stimme habe.

Diese allgemeine Milde wird nur in einzelnen Fällen unterbrochen. Mit
einer besonderen Malice wird durchweg Niebuhr besprochen, und zwar in
allen Zweigen seiner Thätigkeit; obgleich er dann wieder in späterem Lebens¬
alter ein Niese unter Zwergen genannt w>rd. Von Schloezer wird 20. Aug.
1802 behauptet, er wisse keine andere Folge der Entdeckung von Amerika
anzugeben, als daß >nan jetzt mit Indigo statt mit Wald färbe; daß ihm die
Reformation nur darum wichtig erscheine. weil man seitdem weniger
Wachslicht verbrenne und weniger Fische esse. — Erfreulicher ist eine Kritik
Fichte's, Band 1. Seite 203 — 213. welche wir allen denjenigen empfehlen,
die heute Fichte für den größten Philosophen ausgeben möchten, weil er ein
großer Redner und strenger Moralist war. Wo Fichte ins Positive des
Staatslebens eingeht, ist seine Anschauung von einer grenzenlosen Armuth
und Einseitigkeit, und es war für die Praxis ein Glück, daß seine Einseitig¬
keit so kolossal in die Augen sprang; sonst hätte er am Ende noch Schule
gemacht. — Auch über Adam Müller wird mit gerechter Strenge geurtheilt.

In Raumer's politischen und religiösen Ansichten findet man, seiner be¬
weglichen Natur wegen, ein häufiges Schwanken, was aber keineswegs aus,
schließt, daß seine Gesinnung im Großen und Ganzen dieselbe bleibt. Goethe
sagt einmal von Wieland, der geistreiche Mann spielte gern mit seinen Mei¬
nungen, aber niemals mit seinen Gesinnungen; dasselbe kann man von Rau-
wer sagen. In seiner italienischen Reise, 1817, dominirt die romantische
Stimmung, von der sich auch in den Hohenstaufen noch Nachklänge finden;
er nimmt einen hohen religiösen Schwung. In einem Brief an seinen Va^
ter, is. August 1818, spricht er sich leidenschaftlich reactwnär aus. „In
der That ist ein Hauptbemühen aller meiner Vorlesungen, die unseligen
revolutionären Grundsätze, die sich oben und unten in tausend verschiedenen
Gestaltungen fast in allen Ländern Europas blicken lassen und unendlich rei¬
zender, geistreicher, natürlicher erscheinen, als das alte Hauskleid bürgerlicher
Ruhe und genügsamer Zufriedenheit, jene Grundsätze zu bekämpfen und
durch alle denkbaren Gründe des Verstandes und tausende von geschichtlichen
Beispielen zu widerlegen. Es ist aber damit, wie mit der Kur eines Band¬
wurms: bleibt auch nur ein fingerlanges Stück zurück, so wächst das Uebel
allmächtig zur alten Größe hinan, und Niemand hält es für möglich, daß aus


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[0377] Vor Tieck's Werken hatte Raumer' durchweg die größte Verehrung; ein¬ mal, 1. Dec. 1831, steigt seine Begeisterung vor einer der Tieck'schen Novellen so hoch, daß er ausruft: „Alles, was seit Romeo bis Werther von un¬ glücklicher Liebe gedichtet^ oder gefaselt ward, ist nur ein Nippen an einem Honigkelche im Vergleich mit dieser Geschichte!" — Freilich wird Tieck auch einmal stutzig, als er bemerkt, wie mild Raumer über alle Dinge urtheilt, und fürchtet, daß die Freundschaft in seiner Kritik eine zu große Stimme habe. Diese allgemeine Milde wird nur in einzelnen Fällen unterbrochen. Mit einer besonderen Malice wird durchweg Niebuhr besprochen, und zwar in allen Zweigen seiner Thätigkeit; obgleich er dann wieder in späterem Lebens¬ alter ein Niese unter Zwergen genannt w>rd. Von Schloezer wird 20. Aug. 1802 behauptet, er wisse keine andere Folge der Entdeckung von Amerika anzugeben, als daß >nan jetzt mit Indigo statt mit Wald färbe; daß ihm die Reformation nur darum wichtig erscheine. weil man seitdem weniger Wachslicht verbrenne und weniger Fische esse. — Erfreulicher ist eine Kritik Fichte's, Band 1. Seite 203 — 213. welche wir allen denjenigen empfehlen, die heute Fichte für den größten Philosophen ausgeben möchten, weil er ein großer Redner und strenger Moralist war. Wo Fichte ins Positive des Staatslebens eingeht, ist seine Anschauung von einer grenzenlosen Armuth und Einseitigkeit, und es war für die Praxis ein Glück, daß seine Einseitig¬ keit so kolossal in die Augen sprang; sonst hätte er am Ende noch Schule gemacht. — Auch über Adam Müller wird mit gerechter Strenge geurtheilt. In Raumer's politischen und religiösen Ansichten findet man, seiner be¬ weglichen Natur wegen, ein häufiges Schwanken, was aber keineswegs aus, schließt, daß seine Gesinnung im Großen und Ganzen dieselbe bleibt. Goethe sagt einmal von Wieland, der geistreiche Mann spielte gern mit seinen Mei¬ nungen, aber niemals mit seinen Gesinnungen; dasselbe kann man von Rau- wer sagen. In seiner italienischen Reise, 1817, dominirt die romantische Stimmung, von der sich auch in den Hohenstaufen noch Nachklänge finden; er nimmt einen hohen religiösen Schwung. In einem Brief an seinen Va^ ter, is. August 1818, spricht er sich leidenschaftlich reactwnär aus. „In der That ist ein Hauptbemühen aller meiner Vorlesungen, die unseligen revolutionären Grundsätze, die sich oben und unten in tausend verschiedenen Gestaltungen fast in allen Ländern Europas blicken lassen und unendlich rei¬ zender, geistreicher, natürlicher erscheinen, als das alte Hauskleid bürgerlicher Ruhe und genügsamer Zufriedenheit, jene Grundsätze zu bekämpfen und durch alle denkbaren Gründe des Verstandes und tausende von geschichtlichen Beispielen zu widerlegen. Es ist aber damit, wie mit der Kur eines Band¬ wurms: bleibt auch nur ein fingerlanges Stück zurück, so wächst das Uebel allmächtig zur alten Größe hinan, und Niemand hält es für möglich, daß aus

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 20, 1861, II. Semester. IV. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341793_112507/377>, abgerufen am 29.12.2024.