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Die Grenzboten. Jg. 20, 1861, II. Semester. IV. Band.

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Freischöffen einen Verbrecher auf handhafter That ertappten ("habende Hand"),
so daß das Verbrechen also ganz augenscheinlich war ("blickender Schein"), oder
wenn Jnnano in Gegenwart mehrerer Freischöffen eines fehmwrogigen Ver¬
brechens sich schuld,g bekannte oder gar sich dessen rühmte ("gichtiger Mund"),
so bemächtigten sie sich sofort seiner, wenn es anging, führten ihn zum nächsten
Baume und knüpften ihn ohne Weiteres auf. Das war also furchtbar sum
marsch. Entkam ihnen aber der Verbrecher, so daß Tag und Nacht bis zu
seiner Ergreifung verstrich, so mußte das gewöhnliche Verfahren eintreten.
Dieses war aber durchaus accusatorisch. niemals inquisitorisch, d. h. der Frei¬
graf verfuhr lediglich auf erhobene Anklage, deren Beweis er durchaus dem
Kläger überließ; niemals aber leitete er eine Untersuchung ein. um die Wahr¬
heit oder Falschheit der Klage zu constatiren. Auch wurde der Angeklagte
nie verhaftet; er wurde bloß durch einen Ladebrief, den ein Frohnbote oder
einige Freischöffen überbrachten, auf einen bestimmten Tag vorgeladen, vor
dem Freistuhl zu erscheinen und sich zu verantworten. Diese Vorladung wurde,
wenn der Angeklagte nicht erschien, zum zweiten und dritten Mal, zuweilen
noch öfter wiederholt und gewöhnlich eine Frist von sechs Wochen und drei
Tagen gesetzt. Niemals wurde der Angeklagte gefoltert; die Folter, diese
Ausgeburt der entsetzlichsten Verblendung, kannte die Fehme nicht. Endlich
wurden auch über den Verurtheilten niemals grausam verschärfte Todesstrafen
verhängt, die Fehmgerichte kannten nur eine Strafe, und. das war allemal bei
fehmwrogigen Sachen der Strang. Alles, was von finstern Kerkern, furcht¬
baren Folterkammern u. tgi. hinsichtlich der Fehme erzählt wird, ist reine
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Erschien nun der zur gerichtlichen Verhandlung anberaumte Termin, so
sammelten sich gegen Morgens 9 Uhr die Freischöffen beim Freistuhl; wurde
ein sogenanntes "offenes Ding" gehalten, so konnte auch jeder Andere sich ein-
finden und zuhören. In diesem offenen Dinge wurde über geringere Ver¬
gehen, Beschädigung der Wege. AbPflügen von Grundstücken u. tgi. so wie
über jeden "Unwissenden", der vorgeladen war, gerichtet. Sollte aber über
einen Freischöffen gerichtet werden, oder stellte sich heraus, daß die Sache nur
im heimlichen Gerichte entschieden werden könne, so mußten alle Unwissenden
den Platz räumen; wer nach geschehener Aufforderung blieb und als "un¬
wissend" erkannt wurde, der wurde sofort ergriffen und am nächsten Baume auf¬
geknüpft. Sollte nun das Gericht beginnen, so bestieg der Freigraf seinen
Stuhl; vor ihm stand ein Tisch, worauf Schwert und Strick lagen, ringsum
die Freischöffen, ernst und ruhig, mit unbedecktem Haupt. Der Freigraf er¬
öffnete das Gericht mit der Frage an den Freifrohnen. den Diener des
Gerichts, ob es Tag und Zeit sei. im Namen des römischen Kaisers ein
"heilig Ding" zu hegen und 'zu spannen? Der Freifrohn bejahte das in


Grenzboten IV. 1L61. 44

Freischöffen einen Verbrecher auf handhafter That ertappten („habende Hand"),
so daß das Verbrechen also ganz augenscheinlich war („blickender Schein"), oder
wenn Jnnano in Gegenwart mehrerer Freischöffen eines fehmwrogigen Ver¬
brechens sich schuld,g bekannte oder gar sich dessen rühmte („gichtiger Mund"),
so bemächtigten sie sich sofort seiner, wenn es anging, führten ihn zum nächsten
Baume und knüpften ihn ohne Weiteres auf. Das war also furchtbar sum
marsch. Entkam ihnen aber der Verbrecher, so daß Tag und Nacht bis zu
seiner Ergreifung verstrich, so mußte das gewöhnliche Verfahren eintreten.
Dieses war aber durchaus accusatorisch. niemals inquisitorisch, d. h. der Frei¬
graf verfuhr lediglich auf erhobene Anklage, deren Beweis er durchaus dem
Kläger überließ; niemals aber leitete er eine Untersuchung ein. um die Wahr¬
heit oder Falschheit der Klage zu constatiren. Auch wurde der Angeklagte
nie verhaftet; er wurde bloß durch einen Ladebrief, den ein Frohnbote oder
einige Freischöffen überbrachten, auf einen bestimmten Tag vorgeladen, vor
dem Freistuhl zu erscheinen und sich zu verantworten. Diese Vorladung wurde,
wenn der Angeklagte nicht erschien, zum zweiten und dritten Mal, zuweilen
noch öfter wiederholt und gewöhnlich eine Frist von sechs Wochen und drei
Tagen gesetzt. Niemals wurde der Angeklagte gefoltert; die Folter, diese
Ausgeburt der entsetzlichsten Verblendung, kannte die Fehme nicht. Endlich
wurden auch über den Verurtheilten niemals grausam verschärfte Todesstrafen
verhängt, die Fehmgerichte kannten nur eine Strafe, und. das war allemal bei
fehmwrogigen Sachen der Strang. Alles, was von finstern Kerkern, furcht¬
baren Folterkammern u. tgi. hinsichtlich der Fehme erzählt wird, ist reine
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sammelten sich gegen Morgens 9 Uhr die Freischöffen beim Freistuhl; wurde
ein sogenanntes „offenes Ding" gehalten, so konnte auch jeder Andere sich ein-
finden und zuhören. In diesem offenen Dinge wurde über geringere Ver¬
gehen, Beschädigung der Wege. AbPflügen von Grundstücken u. tgi. so wie
über jeden „Unwissenden", der vorgeladen war, gerichtet. Sollte aber über
einen Freischöffen gerichtet werden, oder stellte sich heraus, daß die Sache nur
im heimlichen Gerichte entschieden werden könne, so mußten alle Unwissenden
den Platz räumen; wer nach geschehener Aufforderung blieb und als „un¬
wissend" erkannt wurde, der wurde sofort ergriffen und am nächsten Baume auf¬
geknüpft. Sollte nun das Gericht beginnen, so bestieg der Freigraf seinen
Stuhl; vor ihm stand ein Tisch, worauf Schwert und Strick lagen, ringsum
die Freischöffen, ernst und ruhig, mit unbedecktem Haupt. Der Freigraf er¬
öffnete das Gericht mit der Frage an den Freifrohnen. den Diener des
Gerichts, ob es Tag und Zeit sei. im Namen des römischen Kaisers ein
„heilig Ding" zu hegen und 'zu spannen? Der Freifrohn bejahte das in


Grenzboten IV. 1L61. 44
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[0355] Freischöffen einen Verbrecher auf handhafter That ertappten („habende Hand"), so daß das Verbrechen also ganz augenscheinlich war („blickender Schein"), oder wenn Jnnano in Gegenwart mehrerer Freischöffen eines fehmwrogigen Ver¬ brechens sich schuld,g bekannte oder gar sich dessen rühmte („gichtiger Mund"), so bemächtigten sie sich sofort seiner, wenn es anging, führten ihn zum nächsten Baume und knüpften ihn ohne Weiteres auf. Das war also furchtbar sum marsch. Entkam ihnen aber der Verbrecher, so daß Tag und Nacht bis zu seiner Ergreifung verstrich, so mußte das gewöhnliche Verfahren eintreten. Dieses war aber durchaus accusatorisch. niemals inquisitorisch, d. h. der Frei¬ graf verfuhr lediglich auf erhobene Anklage, deren Beweis er durchaus dem Kläger überließ; niemals aber leitete er eine Untersuchung ein. um die Wahr¬ heit oder Falschheit der Klage zu constatiren. Auch wurde der Angeklagte nie verhaftet; er wurde bloß durch einen Ladebrief, den ein Frohnbote oder einige Freischöffen überbrachten, auf einen bestimmten Tag vorgeladen, vor dem Freistuhl zu erscheinen und sich zu verantworten. Diese Vorladung wurde, wenn der Angeklagte nicht erschien, zum zweiten und dritten Mal, zuweilen noch öfter wiederholt und gewöhnlich eine Frist von sechs Wochen und drei Tagen gesetzt. Niemals wurde der Angeklagte gefoltert; die Folter, diese Ausgeburt der entsetzlichsten Verblendung, kannte die Fehme nicht. Endlich wurden auch über den Verurtheilten niemals grausam verschärfte Todesstrafen verhängt, die Fehmgerichte kannten nur eine Strafe, und. das war allemal bei fehmwrogigen Sachen der Strang. Alles, was von finstern Kerkern, furcht¬ baren Folterkammern u. tgi. hinsichtlich der Fehme erzählt wird, ist reine KMW 5,i„ den»5',.iiij. us'.,-5- t.liai^ .-.qit't)''"»i»^'.. »,tlo's vom Erschien nun der zur gerichtlichen Verhandlung anberaumte Termin, so sammelten sich gegen Morgens 9 Uhr die Freischöffen beim Freistuhl; wurde ein sogenanntes „offenes Ding" gehalten, so konnte auch jeder Andere sich ein- finden und zuhören. In diesem offenen Dinge wurde über geringere Ver¬ gehen, Beschädigung der Wege. AbPflügen von Grundstücken u. tgi. so wie über jeden „Unwissenden", der vorgeladen war, gerichtet. Sollte aber über einen Freischöffen gerichtet werden, oder stellte sich heraus, daß die Sache nur im heimlichen Gerichte entschieden werden könne, so mußten alle Unwissenden den Platz räumen; wer nach geschehener Aufforderung blieb und als „un¬ wissend" erkannt wurde, der wurde sofort ergriffen und am nächsten Baume auf¬ geknüpft. Sollte nun das Gericht beginnen, so bestieg der Freigraf seinen Stuhl; vor ihm stand ein Tisch, worauf Schwert und Strick lagen, ringsum die Freischöffen, ernst und ruhig, mit unbedecktem Haupt. Der Freigraf er¬ öffnete das Gericht mit der Frage an den Freifrohnen. den Diener des Gerichts, ob es Tag und Zeit sei. im Namen des römischen Kaisers ein „heilig Ding" zu hegen und 'zu spannen? Der Freifrohn bejahte das in Grenzboten IV. 1L61. 44

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 20, 1861, II. Semester. IV. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341793_112507/355>, abgerufen am 29.06.2024.