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Die Grenzboten. Jg. 20, 1861, II. Semester. IV. Band.

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Interesse sein, aber die Charakteristik der Kirche im Großen kann sie nicht
ersetzen.

Positive Momente des Katholicismus sind nicht geschildert. Der einzige
Charakter, der mit wirklicher Vorliebe behandelt zu sein scheint, der künftige
Papst, zeigt nichts weniger als eine durchgreifende Willenskraft; er ist ein
stiller, wohlmeinender Träumer, ganz dazu geschaffen, in einer einsamen Pfarre
über die Mysterien des Glaubens und des Gewissens zu grübeln und mit
schonen Seelen zu verkehren. Mit der dreifachen Krone auf dem Haupt wird
er eine seltsame Rolle spielen, da er selbst vor den Verfolgungen der lüderlicher
Lucinde. die ihn mit ihrer Liebe beglückte, eine wahrhaft lächerliche Angst
empfand. Alle Reformatoren waren Männer, eiserne Männer, Gregor der
Siebente und wie sie alle heißen, diesem sanftmüthigen Bonaventura ist die
Kirche zu stark.

Wenn man es unternimmt, eine so massenhafte Verwickelung der Fäden
und Intriguen einzuleiten, so muß man auch im Stande sein, sie zu beherrschen;
reißt der Faden fortwährend ab und muß fortwährend von Neuem ange¬
knüpft werden, so hört die Geduld auf.

Ich habe schon mehrfach Gelegenheit gehabt, mich über Gutzkows dich¬
terische Individualität auszusprechen, und da manche Dinge nicht wohl auf
Zwei verschiedene Weisen ausgedrückt werden können, so möge man mich ent¬
schuldigen, wenn ich mich hier einmal wiederhole.

Man tadelt den Materialismus der heutigen Naturwissenschaft, daß er,
vielleicht ohne es zu wollen, den Glauben an die Seele untergräbt, den Glau¬
ben ein jene individuelle Lebenskraft, die. uns allen bekannt, obgleich uns allen
wunderbar, aus innerer Naturbestimmtheit heraus der äußeren Naturbcstimmt-
heit widersteht, bald sie bezwingt, bald ihr unterliegt, und so ihr eigenes
Schicksal ist. Indeß ist diese Doctrin, weil sie vom Gefühl wie von der
Wahrnehmung leicht widerlegt wird, viel weniger schädlich, als jene mi߬
bräuchlich sogenannte Dichtung, die uns seelenlose Gestalten vorführt und uns
daran gewöhnt. Der Glaube an die Freiheit ist mit dem Bewußtsein der
innern Naturbestinnntheit der Seele, die sich nicht in bloße sinnliche Eindrücke,
in'bloße Empfindungen zerbröckeln läßt, unzertrennlich verbunden: nur die
Seele kann sich frei nennen, die ihrer eigenen Nothwendigkeit folgt. Dichter
mit Talent aber ohne schöpferische Kraft sind nie im Stande, das Bild einer
solchen Seele hervorzubringen, sie sind nie im Stande eine wahre Leidenschaft
zu schildern, denn auch die Leidenschaft, die alle mitwirkenden Umstände über-
wüthet, ist ein Ausfluß jener dämonischen Kraft.- die zu verherrlichen von Alters
her als die hohe Aufgabe der Tragödie angesehen wurde. Jene Dichter, die,
unfähig den Kern des Wesens zu erfassen, alles, was geschieht, aus zufälligen
Umständen, Eindrücken und Erregungen herleiten, verfallen eben deshalb in


Interesse sein, aber die Charakteristik der Kirche im Großen kann sie nicht
ersetzen.

Positive Momente des Katholicismus sind nicht geschildert. Der einzige
Charakter, der mit wirklicher Vorliebe behandelt zu sein scheint, der künftige
Papst, zeigt nichts weniger als eine durchgreifende Willenskraft; er ist ein
stiller, wohlmeinender Träumer, ganz dazu geschaffen, in einer einsamen Pfarre
über die Mysterien des Glaubens und des Gewissens zu grübeln und mit
schonen Seelen zu verkehren. Mit der dreifachen Krone auf dem Haupt wird
er eine seltsame Rolle spielen, da er selbst vor den Verfolgungen der lüderlicher
Lucinde. die ihn mit ihrer Liebe beglückte, eine wahrhaft lächerliche Angst
empfand. Alle Reformatoren waren Männer, eiserne Männer, Gregor der
Siebente und wie sie alle heißen, diesem sanftmüthigen Bonaventura ist die
Kirche zu stark.

Wenn man es unternimmt, eine so massenhafte Verwickelung der Fäden
und Intriguen einzuleiten, so muß man auch im Stande sein, sie zu beherrschen;
reißt der Faden fortwährend ab und muß fortwährend von Neuem ange¬
knüpft werden, so hört die Geduld auf.

Ich habe schon mehrfach Gelegenheit gehabt, mich über Gutzkows dich¬
terische Individualität auszusprechen, und da manche Dinge nicht wohl auf
Zwei verschiedene Weisen ausgedrückt werden können, so möge man mich ent¬
schuldigen, wenn ich mich hier einmal wiederhole.

Man tadelt den Materialismus der heutigen Naturwissenschaft, daß er,
vielleicht ohne es zu wollen, den Glauben an die Seele untergräbt, den Glau¬
ben ein jene individuelle Lebenskraft, die. uns allen bekannt, obgleich uns allen
wunderbar, aus innerer Naturbestimmtheit heraus der äußeren Naturbcstimmt-
heit widersteht, bald sie bezwingt, bald ihr unterliegt, und so ihr eigenes
Schicksal ist. Indeß ist diese Doctrin, weil sie vom Gefühl wie von der
Wahrnehmung leicht widerlegt wird, viel weniger schädlich, als jene mi߬
bräuchlich sogenannte Dichtung, die uns seelenlose Gestalten vorführt und uns
daran gewöhnt. Der Glaube an die Freiheit ist mit dem Bewußtsein der
innern Naturbestinnntheit der Seele, die sich nicht in bloße sinnliche Eindrücke,
in'bloße Empfindungen zerbröckeln läßt, unzertrennlich verbunden: nur die
Seele kann sich frei nennen, die ihrer eigenen Nothwendigkeit folgt. Dichter
mit Talent aber ohne schöpferische Kraft sind nie im Stande, das Bild einer
solchen Seele hervorzubringen, sie sind nie im Stande eine wahre Leidenschaft
zu schildern, denn auch die Leidenschaft, die alle mitwirkenden Umstände über-
wüthet, ist ein Ausfluß jener dämonischen Kraft.- die zu verherrlichen von Alters
her als die hohe Aufgabe der Tragödie angesehen wurde. Jene Dichter, die,
unfähig den Kern des Wesens zu erfassen, alles, was geschieht, aus zufälligen
Umständen, Eindrücken und Erregungen herleiten, verfallen eben deshalb in


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[0257] Interesse sein, aber die Charakteristik der Kirche im Großen kann sie nicht ersetzen. Positive Momente des Katholicismus sind nicht geschildert. Der einzige Charakter, der mit wirklicher Vorliebe behandelt zu sein scheint, der künftige Papst, zeigt nichts weniger als eine durchgreifende Willenskraft; er ist ein stiller, wohlmeinender Träumer, ganz dazu geschaffen, in einer einsamen Pfarre über die Mysterien des Glaubens und des Gewissens zu grübeln und mit schonen Seelen zu verkehren. Mit der dreifachen Krone auf dem Haupt wird er eine seltsame Rolle spielen, da er selbst vor den Verfolgungen der lüderlicher Lucinde. die ihn mit ihrer Liebe beglückte, eine wahrhaft lächerliche Angst empfand. Alle Reformatoren waren Männer, eiserne Männer, Gregor der Siebente und wie sie alle heißen, diesem sanftmüthigen Bonaventura ist die Kirche zu stark. Wenn man es unternimmt, eine so massenhafte Verwickelung der Fäden und Intriguen einzuleiten, so muß man auch im Stande sein, sie zu beherrschen; reißt der Faden fortwährend ab und muß fortwährend von Neuem ange¬ knüpft werden, so hört die Geduld auf. Ich habe schon mehrfach Gelegenheit gehabt, mich über Gutzkows dich¬ terische Individualität auszusprechen, und da manche Dinge nicht wohl auf Zwei verschiedene Weisen ausgedrückt werden können, so möge man mich ent¬ schuldigen, wenn ich mich hier einmal wiederhole. Man tadelt den Materialismus der heutigen Naturwissenschaft, daß er, vielleicht ohne es zu wollen, den Glauben an die Seele untergräbt, den Glau¬ ben ein jene individuelle Lebenskraft, die. uns allen bekannt, obgleich uns allen wunderbar, aus innerer Naturbestimmtheit heraus der äußeren Naturbcstimmt- heit widersteht, bald sie bezwingt, bald ihr unterliegt, und so ihr eigenes Schicksal ist. Indeß ist diese Doctrin, weil sie vom Gefühl wie von der Wahrnehmung leicht widerlegt wird, viel weniger schädlich, als jene mi߬ bräuchlich sogenannte Dichtung, die uns seelenlose Gestalten vorführt und uns daran gewöhnt. Der Glaube an die Freiheit ist mit dem Bewußtsein der innern Naturbestinnntheit der Seele, die sich nicht in bloße sinnliche Eindrücke, in'bloße Empfindungen zerbröckeln läßt, unzertrennlich verbunden: nur die Seele kann sich frei nennen, die ihrer eigenen Nothwendigkeit folgt. Dichter mit Talent aber ohne schöpferische Kraft sind nie im Stande, das Bild einer solchen Seele hervorzubringen, sie sind nie im Stande eine wahre Leidenschaft zu schildern, denn auch die Leidenschaft, die alle mitwirkenden Umstände über- wüthet, ist ein Ausfluß jener dämonischen Kraft.- die zu verherrlichen von Alters her als die hohe Aufgabe der Tragödie angesehen wurde. Jene Dichter, die, unfähig den Kern des Wesens zu erfassen, alles, was geschieht, aus zufälligen Umständen, Eindrücken und Erregungen herleiten, verfallen eben deshalb in

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 20, 1861, II. Semester. IV. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341793_112507/257>, abgerufen am 01.07.2024.