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Die Grenzboten. Jg. 20, 1861, II. Semester. IV. Band.

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treu an der Weise des Lehrers hielt, zum Ueberläufer werden. Ein solcher
war Theodore Chcissöriau, Die aufgeregte, um jedes Stylgesetz absicht¬
lich unbekümmerte Lebensfülle, welche die romantische Kunst ihren keck be¬
wegten Gestalten zu geben suchte, sagte ihm mehr zu, als die Erscheinung der
klaren maßvollen Form, und da ihm eine Vereinigung beider Nickitungen nicht
gelingen wollte, schwankte er von der einen zur andern. ("Christus findet die
Jünger am Oelberge schlafend;" das Leben der Maria Aegyptiaca in der
Kirche Saint-Merry.)

Indessen lebte nicht bloß in den Schülern von Ingres die ideale An¬
schauung fort, welche durch die Wahl einfach schöner Motive und die Voll¬
endung der menschlichen Form die Kunst auf der Höhe des classischen Adels
zu erhalten strebte. Nicht, daß die Nachfolger der David'schen Zeit, die offi-
ciellen Maler der Kirchen und Schlösser, in denen der classische Styl zur flachen
Manier herabsank, mit ernstem Sinn dem Idealen zugestrebt hätten. Es
war vielmehr ein jüngeres Geschlecht, größtentheils aus der Schule von
Pieve und derjenigen von Rom hervorgegangen, welches sich bemühte, der
hohen und geläuterten Anschauung von Ingres nahe zu kommen. Edouard
Pieve selber, ein Schüler Vincents, war der einzige Ausläufer der Epoche,
welche David beherrscht hatte, der aus eigenem inneren Antriebe die Stoffe
der Mythenwelt in classischer Auffassung und mit einem tieferen Sinn für
die edle Anmuth einer gebildeten Form und Bewegung wiederzugeben suchte,
ohne daß er deshalb über jene Zeit hinausgekommen wäre. Es war ein
angenehmes, ein liebenswürdiges Talent; es kam ihm darauf an. den idealen
Motiven mit einer gewissen natürlichen Einfachheit und einem wärmeren
leuchtenden Farbenton ein gefälliges Leben zu geben (Amor und Psyche 1819,
Cephalus und Procris 1824, u. s. w.>; insbesondere ist in seiner Darstellung
heiterer ruhiger Scenen eine entsprechende Stille und Wahrheit der Empfin¬
dung. So gehören auch von den Plafonds des Louvre und des Hotel de
ville die seinigen zu den besten: es spricht aus ihnen eine maßvoll bewegte
Phantasie, sie sind mit Sinn und Geschmack angeordnet, die Gestalten im
Schwung der Linie nicht ohne Reiz. Das Gleiche gilt von seinen religiösen
Gemälden (in den Kirchen Samt Vincent de Paul und Notre-Dame der Lo-
rette): sowenig sie den Vergleich mit den Flandrin'schen Arbeiten aushalten
können, so sehr unterscheiden sie sich wieder zu ihrem Vortheile von der reiz,
los weltlichen Manier der übrigen Wandmalereien. Wegen seines anziehen¬
den Talentes und weil ihm doch eine tüchtige Kenntniß seiner Kunst nicht
fehlte, hatte sich eine zahlreiche Schule um ihn gesammelt und aus dieser ist
die Mehrzahl der Maler hervorgegangen, welche bis in die neueste Zeit an
der idealen Anschauungsweise festhielten. Ein wenigstens mittelbarer Einfluß
der Jngres'schen Richtung ist wol unzweifelhaft.


treu an der Weise des Lehrers hielt, zum Ueberläufer werden. Ein solcher
war Theodore Chcissöriau, Die aufgeregte, um jedes Stylgesetz absicht¬
lich unbekümmerte Lebensfülle, welche die romantische Kunst ihren keck be¬
wegten Gestalten zu geben suchte, sagte ihm mehr zu, als die Erscheinung der
klaren maßvollen Form, und da ihm eine Vereinigung beider Nickitungen nicht
gelingen wollte, schwankte er von der einen zur andern. („Christus findet die
Jünger am Oelberge schlafend;" das Leben der Maria Aegyptiaca in der
Kirche Saint-Merry.)

Indessen lebte nicht bloß in den Schülern von Ingres die ideale An¬
schauung fort, welche durch die Wahl einfach schöner Motive und die Voll¬
endung der menschlichen Form die Kunst auf der Höhe des classischen Adels
zu erhalten strebte. Nicht, daß die Nachfolger der David'schen Zeit, die offi-
ciellen Maler der Kirchen und Schlösser, in denen der classische Styl zur flachen
Manier herabsank, mit ernstem Sinn dem Idealen zugestrebt hätten. Es
war vielmehr ein jüngeres Geschlecht, größtentheils aus der Schule von
Pieve und derjenigen von Rom hervorgegangen, welches sich bemühte, der
hohen und geläuterten Anschauung von Ingres nahe zu kommen. Edouard
Pieve selber, ein Schüler Vincents, war der einzige Ausläufer der Epoche,
welche David beherrscht hatte, der aus eigenem inneren Antriebe die Stoffe
der Mythenwelt in classischer Auffassung und mit einem tieferen Sinn für
die edle Anmuth einer gebildeten Form und Bewegung wiederzugeben suchte,
ohne daß er deshalb über jene Zeit hinausgekommen wäre. Es war ein
angenehmes, ein liebenswürdiges Talent; es kam ihm darauf an. den idealen
Motiven mit einer gewissen natürlichen Einfachheit und einem wärmeren
leuchtenden Farbenton ein gefälliges Leben zu geben (Amor und Psyche 1819,
Cephalus und Procris 1824, u. s. w.>; insbesondere ist in seiner Darstellung
heiterer ruhiger Scenen eine entsprechende Stille und Wahrheit der Empfin¬
dung. So gehören auch von den Plafonds des Louvre und des Hotel de
ville die seinigen zu den besten: es spricht aus ihnen eine maßvoll bewegte
Phantasie, sie sind mit Sinn und Geschmack angeordnet, die Gestalten im
Schwung der Linie nicht ohne Reiz. Das Gleiche gilt von seinen religiösen
Gemälden (in den Kirchen Samt Vincent de Paul und Notre-Dame der Lo-
rette): sowenig sie den Vergleich mit den Flandrin'schen Arbeiten aushalten
können, so sehr unterscheiden sie sich wieder zu ihrem Vortheile von der reiz,
los weltlichen Manier der übrigen Wandmalereien. Wegen seines anziehen¬
den Talentes und weil ihm doch eine tüchtige Kenntniß seiner Kunst nicht
fehlte, hatte sich eine zahlreiche Schule um ihn gesammelt und aus dieser ist
die Mehrzahl der Maler hervorgegangen, welche bis in die neueste Zeit an
der idealen Anschauungsweise festhielten. Ein wenigstens mittelbarer Einfluß
der Jngres'schen Richtung ist wol unzweifelhaft.


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 20, 1861, II. Semester. IV. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341793_112507/183>, abgerufen am 23.07.2024.