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Die Grenzboten. Jg. 20, 1861, II. Semester. IV. Band.

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Welt des Schönen festhielten, schweiften über die Grenzen der Kunst hinaus
und geriethen so trotz der strengen Zucht auf Abwege. Noch schlimmer wurde
es, wo es überhaupt am geistigen Gehalt, an höheren Zwecken fehlte und
die ideale Anschauung zur reinen Formel wurde, die sich jedem beliebigen
Motiv äußerlich anpassen mußte. Dies ist der Fall bei Henri Lehmann,
dem wir schon oben bei Gelegenheit der Wandgemälde des Luxembourg
begegnet sind. Sein erstes Bild aus dem Jahre 1835, die Abreise des jungen
Tobias aus dem Vaterhause, versprach einen tüchtigen Künstler, es hatte bei
guter Ausführung eine einfache Anordnung und Wahrheit des Ausdrucks.
Aber Lehmann schien sich nur diesesmal zusammengenommen zu haben; in
den folgenden Werken traten bald eine kalte Glätte und zierliche Eleganz, welche
die stylvolle Behandlung Ingres' zu einer hohlen Manier verzerrten, offen zu
Tage. Er versuchte sich in allen Gattungen; aber seine mythologischen (die
Oceaniden), wie seine kirchlichen Darstellungen (in der Kapelle des si. Geistes
in der Kirche Saint-Merry) kennzeichnet dieselbe kokette Form und Bewegung,
derselbe gelenkte porzellanartige Schimmer der Farbe. Auch in seinen Scenen
aus dem italienischen Volkstreiben ist kein Leben, und es kann nicht überraschen,
daß er an die Wände des Pariser Stadthauses, an denen er die Haupt-
momente der Culturentwickelung darzustellen hatte/ nur niedliche Puppen malte.

Ein glücklicheres Talent ist Carl Müller (aus Stuttgart), wenn es ihm
auch an Tiefe der künstlerischen Auffassung gebricht. Es scheint, daß in dem
Bilde, das seinen Ruf begründet hat -- das Octoberfest in der Villa Borghese
-- sein Naturell mit dem schönen Motive in günstiger Weise zusammentraf,
und so vermochte er mit seinem durch Ingres gebildeten Formgefühle das
heitere Leben der Römer frisch und tüchtig darzustellen. Er hat nur "diesen
einen Wurf gethan, seine übrigen Bilder gehen über das Mittelmäßige nicht
hinaus. -- Die noch übrigen Schüler von Ingres, welche sich besonders durch
kirchliche Arbeiten bekannt gemacht haben, folgen äußerlich in der Auffassung
und Behandlung, so gut sie eben können, der Weise des Meisters, ohne weder
sie eigenthümlich zu verarbeiten, noch in die Tiefe seiner künstlerischen An¬
schauung einzudringen. Auguste Pichon ist schon erwähnt: Brsmond, Cornu,
Romain Cazes. Balze zählen noch hierher. Auch einige gute Landschaften
der classischen Richtung sind aus der Jngres'schen Schule hervorgegangen;
von ihnen wird bei der Betrachtung der Landschaftsmalerei überhaupt die
Rede sein.

Alle diese Schüler leiden an demselben Mangel, der an den meisten
Bildern Ingres' fühlbar wird: es fehlt ihnen der lebensvolle Schein der Farbe.
Die Zeit brachte es mit sich, daß die Malerei in eine Kunst der Form und
in eine Kunst des Colorits sich theilte, und vorerst schien eine Vermittlung
zwischen beiden nicht möglich. Wie schon oben bemerkt, mußte, wer nicht


Welt des Schönen festhielten, schweiften über die Grenzen der Kunst hinaus
und geriethen so trotz der strengen Zucht auf Abwege. Noch schlimmer wurde
es, wo es überhaupt am geistigen Gehalt, an höheren Zwecken fehlte und
die ideale Anschauung zur reinen Formel wurde, die sich jedem beliebigen
Motiv äußerlich anpassen mußte. Dies ist der Fall bei Henri Lehmann,
dem wir schon oben bei Gelegenheit der Wandgemälde des Luxembourg
begegnet sind. Sein erstes Bild aus dem Jahre 1835, die Abreise des jungen
Tobias aus dem Vaterhause, versprach einen tüchtigen Künstler, es hatte bei
guter Ausführung eine einfache Anordnung und Wahrheit des Ausdrucks.
Aber Lehmann schien sich nur diesesmal zusammengenommen zu haben; in
den folgenden Werken traten bald eine kalte Glätte und zierliche Eleganz, welche
die stylvolle Behandlung Ingres' zu einer hohlen Manier verzerrten, offen zu
Tage. Er versuchte sich in allen Gattungen; aber seine mythologischen (die
Oceaniden), wie seine kirchlichen Darstellungen (in der Kapelle des si. Geistes
in der Kirche Saint-Merry) kennzeichnet dieselbe kokette Form und Bewegung,
derselbe gelenkte porzellanartige Schimmer der Farbe. Auch in seinen Scenen
aus dem italienischen Volkstreiben ist kein Leben, und es kann nicht überraschen,
daß er an die Wände des Pariser Stadthauses, an denen er die Haupt-
momente der Culturentwickelung darzustellen hatte/ nur niedliche Puppen malte.

Ein glücklicheres Talent ist Carl Müller (aus Stuttgart), wenn es ihm
auch an Tiefe der künstlerischen Auffassung gebricht. Es scheint, daß in dem
Bilde, das seinen Ruf begründet hat — das Octoberfest in der Villa Borghese
— sein Naturell mit dem schönen Motive in günstiger Weise zusammentraf,
und so vermochte er mit seinem durch Ingres gebildeten Formgefühle das
heitere Leben der Römer frisch und tüchtig darzustellen. Er hat nur »diesen
einen Wurf gethan, seine übrigen Bilder gehen über das Mittelmäßige nicht
hinaus. — Die noch übrigen Schüler von Ingres, welche sich besonders durch
kirchliche Arbeiten bekannt gemacht haben, folgen äußerlich in der Auffassung
und Behandlung, so gut sie eben können, der Weise des Meisters, ohne weder
sie eigenthümlich zu verarbeiten, noch in die Tiefe seiner künstlerischen An¬
schauung einzudringen. Auguste Pichon ist schon erwähnt: Brsmond, Cornu,
Romain Cazes. Balze zählen noch hierher. Auch einige gute Landschaften
der classischen Richtung sind aus der Jngres'schen Schule hervorgegangen;
von ihnen wird bei der Betrachtung der Landschaftsmalerei überhaupt die
Rede sein.

Alle diese Schüler leiden an demselben Mangel, der an den meisten
Bildern Ingres' fühlbar wird: es fehlt ihnen der lebensvolle Schein der Farbe.
Die Zeit brachte es mit sich, daß die Malerei in eine Kunst der Form und
in eine Kunst des Colorits sich theilte, und vorerst schien eine Vermittlung
zwischen beiden nicht möglich. Wie schon oben bemerkt, mußte, wer nicht


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 20, 1861, II. Semester. IV. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341793_112507/182>, abgerufen am 23.07.2024.