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Die Grenzboten. Jg. 20, 1861, II. Semester. III. Band.

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dans und der Erscheinung, andrerseits dem abenteuerlichen Zuge einer der
Realität entgegengesetzten Phantasie nachzugehen, um endlich in neuester Zeit
bei dem Bilde des gegenwärtigen Lebens zu verweilen: dies zu untersuchen
ist hier nicht der Ort. In der Kunst unseres Zeitalters spielt überhaupt der Rea¬
lismus eine große Rolle; die Geschichte der französischen Malerei wird die
Gelegenheit bieten, ausführlich auf dieses Stulpnncip zurückzukommen. Hier
nur so viel: wirklich berechtigtes Princip kann derselbe nur in der Bedeutung
sein, daß er ideale Stoffe in der Frische und Fülle des unmittelbaren Lebens
zur wirksamen, charakteristischen Erscheinung bringt und daß er wirkliche Stoffe
zwar in ihrer Naturwahrheit schildert, aber so schildert, daß ihr idealer Gehalt
zu Tage kommt oder die Wirklichkeit in die Idealität der Form sich aufhebt.
Auf die Darstellung idealer Stoffe hat die moderne französische Poesie im
Ganzen verzichtet; sie hält sich fast ausschließlich an das wirkliche Leben, das
so ziemlich aller Ideale baar ist. Sie geht darin mit dem Geschmack der
Nation überhaupt Hand in Hand. Es ist oben bemerkt, wie sich nur noch in
der abenteuerlichen Welt des Geldes und der äemi-noua^das moderne Leben
zu interessanten Verwicklungen und überraschenden Wendungen zuspitzte und
wie der Reiz dieses Schauspiels alle Schichten der Gesellschaft anzog. Es ist
begreiflich, daß der Dichter vor Allem nach solchen Stoffen langt und insbe¬
sondere ist es bei dem angeborenen Hang und Talent des Franzosen für das
Theater die Bühne, welche dieselben zur Darstellung bringt.

Daß sich aus diesen Stoffen ein idealer Gehalt einfach deshalb nicht heraus¬
stellen läßt, weil sie keinen haben, versteht sich von selbst; die gewöhnliche
Schlußmoral, daß das stille bescheidene Glück der Pflichterfüllung und des
Familienlebens, die beschänkte Zufriedenheit des honnetten Mannes den Tau¬
mel jener Welt überdauere, kann dafür keinen Ersatz bieten. Tiefe, ernste
Conflicte zwischen dieser und der sittlichen Welt sind nicht denkbar; denn der
Kampf ist einseitig, die Waffen ungleich, die eine kann nur gewinnen, die an¬
dere nur verlieren, die Sittlichkeit geht eher in der bedenklichen Umgebung unter
als diese zu ihr über, und so läßt sich auch von dieser Seite der Sache kerr
edles Interesse abgewinnen. Ebensowenig geht dieselbe in die komische Aus"
lösung ein: es sind feste, in dein gesellschaftlichen Boden eingewurzelte Be>-
hälinisse. die der Dichter schildert, si? haben in das Leben tief eingeschnitten,
ihm ihre Form aufgedrückt; sie lassen sich durch die Aufdeckung ihres W>der>
spruchs nicht mehr weglachen, und es fehlt dem Gegengliede, der ehrlichen
Welt, an der sie zerschellen sollen, die gehörige Härte und Widerstandskraft-
Die stoffliche Schwere läßt die reine Zugluft dxs Humors nicht herein. So
ist bei allen diesen dramatischen Versuchen von wirklicher Kunst in keinem S>um
die Rede; auch wird dies, daß die Kreise der Börse und der An-mi-monÄL W


dans und der Erscheinung, andrerseits dem abenteuerlichen Zuge einer der
Realität entgegengesetzten Phantasie nachzugehen, um endlich in neuester Zeit
bei dem Bilde des gegenwärtigen Lebens zu verweilen: dies zu untersuchen
ist hier nicht der Ort. In der Kunst unseres Zeitalters spielt überhaupt der Rea¬
lismus eine große Rolle; die Geschichte der französischen Malerei wird die
Gelegenheit bieten, ausführlich auf dieses Stulpnncip zurückzukommen. Hier
nur so viel: wirklich berechtigtes Princip kann derselbe nur in der Bedeutung
sein, daß er ideale Stoffe in der Frische und Fülle des unmittelbaren Lebens
zur wirksamen, charakteristischen Erscheinung bringt und daß er wirkliche Stoffe
zwar in ihrer Naturwahrheit schildert, aber so schildert, daß ihr idealer Gehalt
zu Tage kommt oder die Wirklichkeit in die Idealität der Form sich aufhebt.
Auf die Darstellung idealer Stoffe hat die moderne französische Poesie im
Ganzen verzichtet; sie hält sich fast ausschließlich an das wirkliche Leben, das
so ziemlich aller Ideale baar ist. Sie geht darin mit dem Geschmack der
Nation überhaupt Hand in Hand. Es ist oben bemerkt, wie sich nur noch in
der abenteuerlichen Welt des Geldes und der äemi-noua^das moderne Leben
zu interessanten Verwicklungen und überraschenden Wendungen zuspitzte und
wie der Reiz dieses Schauspiels alle Schichten der Gesellschaft anzog. Es ist
begreiflich, daß der Dichter vor Allem nach solchen Stoffen langt und insbe¬
sondere ist es bei dem angeborenen Hang und Talent des Franzosen für das
Theater die Bühne, welche dieselben zur Darstellung bringt.

Daß sich aus diesen Stoffen ein idealer Gehalt einfach deshalb nicht heraus¬
stellen läßt, weil sie keinen haben, versteht sich von selbst; die gewöhnliche
Schlußmoral, daß das stille bescheidene Glück der Pflichterfüllung und des
Familienlebens, die beschänkte Zufriedenheit des honnetten Mannes den Tau¬
mel jener Welt überdauere, kann dafür keinen Ersatz bieten. Tiefe, ernste
Conflicte zwischen dieser und der sittlichen Welt sind nicht denkbar; denn der
Kampf ist einseitig, die Waffen ungleich, die eine kann nur gewinnen, die an¬
dere nur verlieren, die Sittlichkeit geht eher in der bedenklichen Umgebung unter
als diese zu ihr über, und so läßt sich auch von dieser Seite der Sache kerr
edles Interesse abgewinnen. Ebensowenig geht dieselbe in die komische Aus«
lösung ein: es sind feste, in dein gesellschaftlichen Boden eingewurzelte Be>-
hälinisse. die der Dichter schildert, si? haben in das Leben tief eingeschnitten,
ihm ihre Form aufgedrückt; sie lassen sich durch die Aufdeckung ihres W>der>
spruchs nicht mehr weglachen, und es fehlt dem Gegengliede, der ehrlichen
Welt, an der sie zerschellen sollen, die gehörige Härte und Widerstandskraft-
Die stoffliche Schwere läßt die reine Zugluft dxs Humors nicht herein. So
ist bei allen diesen dramatischen Versuchen von wirklicher Kunst in keinem S>um
die Rede; auch wird dies, daß die Kreise der Börse und der An-mi-monÄL W


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 20, 1861, II. Semester. III. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341793_111969/230>, abgerufen am 26.08.2024.