Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 20, 1861, II. Semester. III. Band.

Bild:
<< vorherige Seite

.in die verklärende Hülle einer idealen, künstlerischen Form kleiden, wol Nie¬
mand erwarten.

Das Vorbild für die eine Richtung dieser Literatur ist der kleine Roman:
"die Geschichte des Chevalier des Grieux und der Manon Lcscaut". vom Abbe
Prevost (vom I. 1743). dem sein von Leidenschaften und seltsamen Schicksa¬
len bewegtes Leben den Stoff gab. Es ist wahr, daß in seiner einfachen
Schilderung der hinreißenden Macht der Liebe, die das Ehrgefühl des Edel¬
mannes überwindet, und andrerseits des verführerischen Reizes, der im Ge¬
nusse liegt und die Liebe wieder aus dem Felde schlägt, eine ergreifende Wahr¬
heit ist. Aber jetzt haben sich die Verhältnisse geändert und die Empfindun¬
gen. Derartige freie Ehen sind zum leichtfertigen Spiel geworden. Keinem
fällt es ein, die ganze Innigkeit seiner Gefühle hineinzulegen, selbst wenn er
sie noch hätte, nicht nach und nach in kleiner Scheidemünze ausgegeben
hätte, und wer ein frisches Herz hinzubringt, geräth in Zwiespalt nur so lange
er betrogen ist und um den Betrug nicht weiß. Das wußte der Dichter wol;
in dem Lustspiel, das der Klasse ihren Namen gab, 1s äemi-morals. verharrt der
Liebhaber in seiner hartnäckigen Leidenschaft genau bis zu dem Augenblicke
da die gewandte Betrügerin endlich auch vor seinen Augen entlarvt ist. And¬
rerseits hat man es der Uebung in derlei Dingen zu verdanken, daß man die
grob eingreifende Hand des Gesetzes zu umgehen weiß, und so hat es auch mit
den ergreifenden Kollisionen zwischen Ehre und Neigung, geheimer Lust und
öffentlicher Schmach ein Ende.

Man kennt die Stücke, die seit dem Beginn des Kaiserreichs bald in ko¬
mischer, bald in rührender Form, wie es heißt, zur Ehrenrettung der Sittlich¬
keit die zweideutige Welt zur Darstellung bringen. Indessen, wie auch die
Moral lauten mag, der Zuschauer weidet sich an dem unheimlichen Reiz, dem
wechselvollen Spiel, der Pracht, und dem liebenswürdigen Uebermuth dieses
Lebens. Dazu kommt, daß er die sonst so eingeengte, gezwängte Individualität
bier in völliger Ungebundenheit von Gesetz und Sitte losgelassen sieht. Zu
milan Zeiten schlug es in des dramatischen Dichters Amt, die Sitten seines
Jahrhunderts zu schildern; aber er hatte zu zeigen, zu welcher eigenthümlichen
Gestalt und Färbung sich in dieser Form die allgemein-menschlichen Verhält¬
nisse und Empfindungen verdichteten, niemals dursten jene die letzteren bis
Sur Unkenntlichkeit zersetzen und zerstören, soweit durfte, falls dem so war. die
Bühne der Wirklichkeit nicht folgen. Dagegen scheint sich der französische Poet
^in Grundsatz gemacht zu haben, die Verzerrung und Verwirrung der mo¬
dernen Pariser Zustände, die jeder wahren Empfindung offen in's Gesicht
^läge, gerade in ihrem sinnlosen Durcheinander zu schildern und der unge¬
lenken Einfalt einer hinterherhinkenden Sittlichkeit gegenüberzustellen.

Neben der ÜLmi-monäs sind in neuester Zeit die Launen und Ränke des


.in die verklärende Hülle einer idealen, künstlerischen Form kleiden, wol Nie¬
mand erwarten.

Das Vorbild für die eine Richtung dieser Literatur ist der kleine Roman:
„die Geschichte des Chevalier des Grieux und der Manon Lcscaut". vom Abbe
Prevost (vom I. 1743). dem sein von Leidenschaften und seltsamen Schicksa¬
len bewegtes Leben den Stoff gab. Es ist wahr, daß in seiner einfachen
Schilderung der hinreißenden Macht der Liebe, die das Ehrgefühl des Edel¬
mannes überwindet, und andrerseits des verführerischen Reizes, der im Ge¬
nusse liegt und die Liebe wieder aus dem Felde schlägt, eine ergreifende Wahr¬
heit ist. Aber jetzt haben sich die Verhältnisse geändert und die Empfindun¬
gen. Derartige freie Ehen sind zum leichtfertigen Spiel geworden. Keinem
fällt es ein, die ganze Innigkeit seiner Gefühle hineinzulegen, selbst wenn er
sie noch hätte, nicht nach und nach in kleiner Scheidemünze ausgegeben
hätte, und wer ein frisches Herz hinzubringt, geräth in Zwiespalt nur so lange
er betrogen ist und um den Betrug nicht weiß. Das wußte der Dichter wol;
in dem Lustspiel, das der Klasse ihren Namen gab, 1s äemi-morals. verharrt der
Liebhaber in seiner hartnäckigen Leidenschaft genau bis zu dem Augenblicke
da die gewandte Betrügerin endlich auch vor seinen Augen entlarvt ist. And¬
rerseits hat man es der Uebung in derlei Dingen zu verdanken, daß man die
grob eingreifende Hand des Gesetzes zu umgehen weiß, und so hat es auch mit
den ergreifenden Kollisionen zwischen Ehre und Neigung, geheimer Lust und
öffentlicher Schmach ein Ende.

Man kennt die Stücke, die seit dem Beginn des Kaiserreichs bald in ko¬
mischer, bald in rührender Form, wie es heißt, zur Ehrenrettung der Sittlich¬
keit die zweideutige Welt zur Darstellung bringen. Indessen, wie auch die
Moral lauten mag, der Zuschauer weidet sich an dem unheimlichen Reiz, dem
wechselvollen Spiel, der Pracht, und dem liebenswürdigen Uebermuth dieses
Lebens. Dazu kommt, daß er die sonst so eingeengte, gezwängte Individualität
bier in völliger Ungebundenheit von Gesetz und Sitte losgelassen sieht. Zu
milan Zeiten schlug es in des dramatischen Dichters Amt, die Sitten seines
Jahrhunderts zu schildern; aber er hatte zu zeigen, zu welcher eigenthümlichen
Gestalt und Färbung sich in dieser Form die allgemein-menschlichen Verhält¬
nisse und Empfindungen verdichteten, niemals dursten jene die letzteren bis
Sur Unkenntlichkeit zersetzen und zerstören, soweit durfte, falls dem so war. die
Bühne der Wirklichkeit nicht folgen. Dagegen scheint sich der französische Poet
^in Grundsatz gemacht zu haben, die Verzerrung und Verwirrung der mo¬
dernen Pariser Zustände, die jeder wahren Empfindung offen in's Gesicht
^läge, gerade in ihrem sinnlosen Durcheinander zu schildern und der unge¬
lenken Einfalt einer hinterherhinkenden Sittlichkeit gegenüberzustellen.

Neben der ÜLmi-monäs sind in neuester Zeit die Launen und Ränke des


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <div n="2">
            <pb facs="#f0231" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/112201"/>
            <p xml:id="ID_781" prev="#ID_780"> .in die verklärende Hülle einer idealen, künstlerischen Form kleiden, wol Nie¬<lb/>
mand erwarten.</p><lb/>
            <p xml:id="ID_782"> Das Vorbild für die eine Richtung dieser Literatur ist der kleine Roman:<lb/>
&#x201E;die Geschichte des Chevalier des Grieux und der Manon Lcscaut". vom Abbe<lb/>
Prevost (vom I. 1743). dem sein von Leidenschaften und seltsamen Schicksa¬<lb/>
len bewegtes Leben den Stoff gab. Es ist wahr, daß in seiner einfachen<lb/>
Schilderung der hinreißenden Macht der Liebe, die das Ehrgefühl des Edel¬<lb/>
mannes überwindet, und andrerseits des verführerischen Reizes, der im Ge¬<lb/>
nusse liegt und die Liebe wieder aus dem Felde schlägt, eine ergreifende Wahr¬<lb/>
heit ist. Aber jetzt haben sich die Verhältnisse geändert und die Empfindun¬<lb/>
gen. Derartige freie Ehen sind zum leichtfertigen Spiel geworden. Keinem<lb/>
fällt es ein, die ganze Innigkeit seiner Gefühle hineinzulegen, selbst wenn er<lb/>
sie noch hätte, nicht nach und nach in kleiner Scheidemünze ausgegeben<lb/>
hätte, und wer ein frisches Herz hinzubringt, geräth in Zwiespalt nur so lange<lb/>
er betrogen ist und um den Betrug nicht weiß. Das wußte der Dichter wol;<lb/>
in dem Lustspiel, das der Klasse ihren Namen gab, 1s äemi-morals. verharrt der<lb/>
Liebhaber in seiner hartnäckigen Leidenschaft genau bis zu dem Augenblicke<lb/>
da die gewandte Betrügerin endlich auch vor seinen Augen entlarvt ist. And¬<lb/>
rerseits hat man es der Uebung in derlei Dingen zu verdanken, daß man die<lb/>
grob eingreifende Hand des Gesetzes zu umgehen weiß, und so hat es auch mit<lb/>
den ergreifenden Kollisionen zwischen Ehre und Neigung, geheimer Lust und<lb/>
öffentlicher Schmach ein Ende.</p><lb/>
            <p xml:id="ID_783"> Man kennt die Stücke, die seit dem Beginn des Kaiserreichs bald in ko¬<lb/>
mischer, bald in rührender Form, wie es heißt, zur Ehrenrettung der Sittlich¬<lb/>
keit die zweideutige Welt zur Darstellung bringen. Indessen, wie auch die<lb/>
Moral lauten mag, der Zuschauer weidet sich an dem unheimlichen Reiz, dem<lb/>
wechselvollen Spiel, der Pracht, und dem liebenswürdigen Uebermuth dieses<lb/>
Lebens. Dazu kommt, daß er die sonst so eingeengte, gezwängte Individualität<lb/>
bier in völliger Ungebundenheit von Gesetz und Sitte losgelassen sieht. Zu<lb/>
milan Zeiten schlug es in des dramatischen Dichters Amt, die Sitten seines<lb/>
Jahrhunderts zu schildern; aber er hatte zu zeigen, zu welcher eigenthümlichen<lb/>
Gestalt und Färbung sich in dieser Form die allgemein-menschlichen Verhält¬<lb/>
nisse und Empfindungen verdichteten, niemals dursten jene die letzteren bis<lb/>
Sur Unkenntlichkeit zersetzen und zerstören, soweit durfte, falls dem so war. die<lb/>
Bühne der Wirklichkeit nicht folgen. Dagegen scheint sich der französische Poet<lb/>
^in Grundsatz gemacht zu haben, die Verzerrung und Verwirrung der mo¬<lb/>
dernen Pariser Zustände, die jeder wahren Empfindung offen in's Gesicht<lb/>
^läge, gerade in ihrem sinnlosen Durcheinander zu schildern und der unge¬<lb/>
lenken Einfalt einer hinterherhinkenden Sittlichkeit gegenüberzustellen.</p><lb/>
            <p xml:id="ID_784" next="#ID_785"> Neben der ÜLmi-monäs sind in neuester Zeit die Launen und Ränke des</p><lb/>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0231] .in die verklärende Hülle einer idealen, künstlerischen Form kleiden, wol Nie¬ mand erwarten. Das Vorbild für die eine Richtung dieser Literatur ist der kleine Roman: „die Geschichte des Chevalier des Grieux und der Manon Lcscaut". vom Abbe Prevost (vom I. 1743). dem sein von Leidenschaften und seltsamen Schicksa¬ len bewegtes Leben den Stoff gab. Es ist wahr, daß in seiner einfachen Schilderung der hinreißenden Macht der Liebe, die das Ehrgefühl des Edel¬ mannes überwindet, und andrerseits des verführerischen Reizes, der im Ge¬ nusse liegt und die Liebe wieder aus dem Felde schlägt, eine ergreifende Wahr¬ heit ist. Aber jetzt haben sich die Verhältnisse geändert und die Empfindun¬ gen. Derartige freie Ehen sind zum leichtfertigen Spiel geworden. Keinem fällt es ein, die ganze Innigkeit seiner Gefühle hineinzulegen, selbst wenn er sie noch hätte, nicht nach und nach in kleiner Scheidemünze ausgegeben hätte, und wer ein frisches Herz hinzubringt, geräth in Zwiespalt nur so lange er betrogen ist und um den Betrug nicht weiß. Das wußte der Dichter wol; in dem Lustspiel, das der Klasse ihren Namen gab, 1s äemi-morals. verharrt der Liebhaber in seiner hartnäckigen Leidenschaft genau bis zu dem Augenblicke da die gewandte Betrügerin endlich auch vor seinen Augen entlarvt ist. And¬ rerseits hat man es der Uebung in derlei Dingen zu verdanken, daß man die grob eingreifende Hand des Gesetzes zu umgehen weiß, und so hat es auch mit den ergreifenden Kollisionen zwischen Ehre und Neigung, geheimer Lust und öffentlicher Schmach ein Ende. Man kennt die Stücke, die seit dem Beginn des Kaiserreichs bald in ko¬ mischer, bald in rührender Form, wie es heißt, zur Ehrenrettung der Sittlich¬ keit die zweideutige Welt zur Darstellung bringen. Indessen, wie auch die Moral lauten mag, der Zuschauer weidet sich an dem unheimlichen Reiz, dem wechselvollen Spiel, der Pracht, und dem liebenswürdigen Uebermuth dieses Lebens. Dazu kommt, daß er die sonst so eingeengte, gezwängte Individualität bier in völliger Ungebundenheit von Gesetz und Sitte losgelassen sieht. Zu milan Zeiten schlug es in des dramatischen Dichters Amt, die Sitten seines Jahrhunderts zu schildern; aber er hatte zu zeigen, zu welcher eigenthümlichen Gestalt und Färbung sich in dieser Form die allgemein-menschlichen Verhält¬ nisse und Empfindungen verdichteten, niemals dursten jene die letzteren bis Sur Unkenntlichkeit zersetzen und zerstören, soweit durfte, falls dem so war. die Bühne der Wirklichkeit nicht folgen. Dagegen scheint sich der französische Poet ^in Grundsatz gemacht zu haben, die Verzerrung und Verwirrung der mo¬ dernen Pariser Zustände, die jeder wahren Empfindung offen in's Gesicht ^läge, gerade in ihrem sinnlosen Durcheinander zu schildern und der unge¬ lenken Einfalt einer hinterherhinkenden Sittlichkeit gegenüberzustellen. Neben der ÜLmi-monäs sind in neuester Zeit die Launen und Ränke des

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341793_111969
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341793_111969/231
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 20, 1861, II. Semester. III. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341793_111969/231>, abgerufen am 26.08.2024.