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Die Grenzboten. Jg. 20, 1861, II. Semester. III. Band.

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Courtisane als berechtigtes Mitglied in die anständige Welt ausgenommen zu
werden, so spielt sie ihre Rolle nicht lange, sie sehnt sich zu dem dämonischen
Wechsel ihres wilden, lustigen Lebens zurück: ein neueres Stück. 1s mariaZs
ä'Ohmxs, hat diese Widersprüche der Lüge ganz richtig geschildert. Ganz
ebenso ist es mit dem Abenteurer, dem Sprößling der Geldspeculation. Und
eben weil diese ganze Klasse krampfhaft sich abmüht, aus ihrer Sphäre
in eine andere sich hinaufzuschwindeln, da doch nur in ihrem Treiben der Reiz
ihrer Existenz besteht, wird selbst die geistreiche Fröhlichkeit, die Ausgelassen-
heit der Lust zum falschen Schein, hinter dem sich eine nagende Unruhe ver-
birgt. So schneidet das ganze Leben eine Fratze. Es ist bezeichnend, daß
von dieser Menschengattung die ganze Welt das Gesetz der Mode empfängt,
einer Mode, die vor Allem darin besteht, dem Körper eine prächtige Fülle an¬
zulügen. Beiläufig bemerkt, geht gerade in neuester Zeit ein unerhörter Prüm?
mit dem geschmacklosesten Schnitte Hand in Hand, da es vor Allem darauf
ankommt, die kostbaren Stoffe in Masse möglichst zweckwidrig anzuhängen und
nachzuschleifen. Nur wissen auch hier die Franzosen durch die feine Zusam¬
menstimmung die Farben ihren Sinn für gefällige Erscheinung zu bewähren.
Mit dem geheimen Interesse für das Treiben jener Klassen hat sich auch
die Nachsichtigkeit gegen die Lüge eingeschlichen, der Sinn für das Wahre und
Einfache nicht nur im Leben, sondern auch in der Phantasie und Empfindung
abgestumpft.

Die Folgen dieses Verhältnisses und der Lebensweise überhaupt liegen
°uf der Hand. So lange man noch für die Entwicklung der öffentlichen Dinge
iwischen Furcht und Hoffnung schwebte, war doch wenigstens noch ein In¬
teresse lebendig, das die alltägliche Wirklichkeit überstieg. Seit aber auch diese
Frage ein für allemal abgethan ist, ist die Gleichgültigkeit für alle idealen
Dinge und allgemein menschliche Verhältnisse vollkommen und durchgängig.
Die verfeinerte Cultur dient nur Privatzwecken. die Ausbildung der äußern Exi¬
stenz nimmt alle Kräfte und Mittel in Anspruch und für den Mangel jedes
höheren Strebens, jedes begeisterten Aufschwungs entschädigt keine Wärme und
Tülle des Herzens, keine Innigkeit sittlicher Beziehungen.

Es ist natürlich, daß dem fest ausgeprägten Charakter dieses Lebens auch
die Kunst unterliegt; und es begreift sich leicht, daß insbesondere die dra¬
matische Dichtung, seit das gegenwärtige Geschlecht von der idealen Welt
und den allgemeinen Interessen gleichgültig sich abgewendet hat, dem Ge¬
schmack sich anpaßt und die Wirklichkeit sich zum Vorwurf nimmt.

Wie die französische Poesie dieses Jahrhunderts allmälig dazu kam, das
conventionelle Drama und ete classische Richtung zu verlassen, zunächst die
Darstellung allgemein-menschlicher Zustände und geschichtlicher Ereignisse zu ver¬
bunden, dann in der Romantik einerseits der realistischen Wahrheit des De-


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Courtisane als berechtigtes Mitglied in die anständige Welt ausgenommen zu
werden, so spielt sie ihre Rolle nicht lange, sie sehnt sich zu dem dämonischen
Wechsel ihres wilden, lustigen Lebens zurück: ein neueres Stück. 1s mariaZs
ä'Ohmxs, hat diese Widersprüche der Lüge ganz richtig geschildert. Ganz
ebenso ist es mit dem Abenteurer, dem Sprößling der Geldspeculation. Und
eben weil diese ganze Klasse krampfhaft sich abmüht, aus ihrer Sphäre
in eine andere sich hinaufzuschwindeln, da doch nur in ihrem Treiben der Reiz
ihrer Existenz besteht, wird selbst die geistreiche Fröhlichkeit, die Ausgelassen-
heit der Lust zum falschen Schein, hinter dem sich eine nagende Unruhe ver-
birgt. So schneidet das ganze Leben eine Fratze. Es ist bezeichnend, daß
von dieser Menschengattung die ganze Welt das Gesetz der Mode empfängt,
einer Mode, die vor Allem darin besteht, dem Körper eine prächtige Fülle an¬
zulügen. Beiläufig bemerkt, geht gerade in neuester Zeit ein unerhörter Prüm?
mit dem geschmacklosesten Schnitte Hand in Hand, da es vor Allem darauf
ankommt, die kostbaren Stoffe in Masse möglichst zweckwidrig anzuhängen und
nachzuschleifen. Nur wissen auch hier die Franzosen durch die feine Zusam¬
menstimmung die Farben ihren Sinn für gefällige Erscheinung zu bewähren.
Mit dem geheimen Interesse für das Treiben jener Klassen hat sich auch
die Nachsichtigkeit gegen die Lüge eingeschlichen, der Sinn für das Wahre und
Einfache nicht nur im Leben, sondern auch in der Phantasie und Empfindung
abgestumpft.

Die Folgen dieses Verhältnisses und der Lebensweise überhaupt liegen
°uf der Hand. So lange man noch für die Entwicklung der öffentlichen Dinge
iwischen Furcht und Hoffnung schwebte, war doch wenigstens noch ein In¬
teresse lebendig, das die alltägliche Wirklichkeit überstieg. Seit aber auch diese
Frage ein für allemal abgethan ist, ist die Gleichgültigkeit für alle idealen
Dinge und allgemein menschliche Verhältnisse vollkommen und durchgängig.
Die verfeinerte Cultur dient nur Privatzwecken. die Ausbildung der äußern Exi¬
stenz nimmt alle Kräfte und Mittel in Anspruch und für den Mangel jedes
höheren Strebens, jedes begeisterten Aufschwungs entschädigt keine Wärme und
Tülle des Herzens, keine Innigkeit sittlicher Beziehungen.

Es ist natürlich, daß dem fest ausgeprägten Charakter dieses Lebens auch
die Kunst unterliegt; und es begreift sich leicht, daß insbesondere die dra¬
matische Dichtung, seit das gegenwärtige Geschlecht von der idealen Welt
und den allgemeinen Interessen gleichgültig sich abgewendet hat, dem Ge¬
schmack sich anpaßt und die Wirklichkeit sich zum Vorwurf nimmt.

Wie die französische Poesie dieses Jahrhunderts allmälig dazu kam, das
conventionelle Drama und ete classische Richtung zu verlassen, zunächst die
Darstellung allgemein-menschlicher Zustände und geschichtlicher Ereignisse zu ver¬
bunden, dann in der Romantik einerseits der realistischen Wahrheit des De-


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[0229] Courtisane als berechtigtes Mitglied in die anständige Welt ausgenommen zu werden, so spielt sie ihre Rolle nicht lange, sie sehnt sich zu dem dämonischen Wechsel ihres wilden, lustigen Lebens zurück: ein neueres Stück. 1s mariaZs ä'Ohmxs, hat diese Widersprüche der Lüge ganz richtig geschildert. Ganz ebenso ist es mit dem Abenteurer, dem Sprößling der Geldspeculation. Und eben weil diese ganze Klasse krampfhaft sich abmüht, aus ihrer Sphäre in eine andere sich hinaufzuschwindeln, da doch nur in ihrem Treiben der Reiz ihrer Existenz besteht, wird selbst die geistreiche Fröhlichkeit, die Ausgelassen- heit der Lust zum falschen Schein, hinter dem sich eine nagende Unruhe ver- birgt. So schneidet das ganze Leben eine Fratze. Es ist bezeichnend, daß von dieser Menschengattung die ganze Welt das Gesetz der Mode empfängt, einer Mode, die vor Allem darin besteht, dem Körper eine prächtige Fülle an¬ zulügen. Beiläufig bemerkt, geht gerade in neuester Zeit ein unerhörter Prüm? mit dem geschmacklosesten Schnitte Hand in Hand, da es vor Allem darauf ankommt, die kostbaren Stoffe in Masse möglichst zweckwidrig anzuhängen und nachzuschleifen. Nur wissen auch hier die Franzosen durch die feine Zusam¬ menstimmung die Farben ihren Sinn für gefällige Erscheinung zu bewähren. Mit dem geheimen Interesse für das Treiben jener Klassen hat sich auch die Nachsichtigkeit gegen die Lüge eingeschlichen, der Sinn für das Wahre und Einfache nicht nur im Leben, sondern auch in der Phantasie und Empfindung abgestumpft. Die Folgen dieses Verhältnisses und der Lebensweise überhaupt liegen °uf der Hand. So lange man noch für die Entwicklung der öffentlichen Dinge iwischen Furcht und Hoffnung schwebte, war doch wenigstens noch ein In¬ teresse lebendig, das die alltägliche Wirklichkeit überstieg. Seit aber auch diese Frage ein für allemal abgethan ist, ist die Gleichgültigkeit für alle idealen Dinge und allgemein menschliche Verhältnisse vollkommen und durchgängig. Die verfeinerte Cultur dient nur Privatzwecken. die Ausbildung der äußern Exi¬ stenz nimmt alle Kräfte und Mittel in Anspruch und für den Mangel jedes höheren Strebens, jedes begeisterten Aufschwungs entschädigt keine Wärme und Tülle des Herzens, keine Innigkeit sittlicher Beziehungen. Es ist natürlich, daß dem fest ausgeprägten Charakter dieses Lebens auch die Kunst unterliegt; und es begreift sich leicht, daß insbesondere die dra¬ matische Dichtung, seit das gegenwärtige Geschlecht von der idealen Welt und den allgemeinen Interessen gleichgültig sich abgewendet hat, dem Ge¬ schmack sich anpaßt und die Wirklichkeit sich zum Vorwurf nimmt. Wie die französische Poesie dieses Jahrhunderts allmälig dazu kam, das conventionelle Drama und ete classische Richtung zu verlassen, zunächst die Darstellung allgemein-menschlicher Zustände und geschichtlicher Ereignisse zu ver¬ bunden, dann in der Romantik einerseits der realistischen Wahrheit des De- 28"

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 20, 1861, II. Semester. III. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341793_111969/229>, abgerufen am 26.08.2024.