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Die Grenzboten. Jg. 20, 1861, II. Semester. III. Band.

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auch jetzt die Furcht überwinden und seine Freuden sich nicht trüben lassen. Der
Vater, in dem stolzen Vorgefühl, selber zu Kampf und Sieg mitgewirkt zu
haben, läßt sich überzeugen: der Tag zur Hochzeit wird angesetzt und es geht
Alles herrlich, wie vorher. Das ,Mbula. docet" könnte doch auch einmal
ein anderes Ergebniß haben, besonders wenn die Sorglosigkeit um die öffent¬
lichen Dinge auch weiterhin gleichen Schritt mit der Genußsucht hält.

Nun zeigt sich auch die nachtheilige Seite der in allen Klassen gleichmä¬
ßigen festen Sitte, der durchgängigen Lebensformen. Man forscht nicht nach
dem innern Werth der Personen und Zustände, man findet es kaum billig, sich
um das zu kümmern, was sie nicht vor der Welt auskramen, und nimmt sie
einfach so wie sie sich geben. Die Allen geläufige Form bildet, wie wir ge¬
sehen, selbst zwischen entgegengesetzten Kreisen die Vermittlung; aber indem
sie für das Gute wie das Schlimme den gleich gefälligen Model angibt, ver¬
wischen sich die Unterschiede. Sie ist dem Franzosen durchaus natürlich, da¬
her lebendig, aber sie ist dennoch eine Maske; denn sie paßt sich den Gestal¬
ten und Situationen nicht an, sie ist immer und überall dieselbe. Dinge und
Verhältnisse, die, offen und rund ausgesprochen, selbst eine bequeme Sittlichkeit
empören würden, werden lächelnd mit zugedrückten Auge hingenommen, weil
sie im Salonkleid gewandt sich bewegen. So hängen denn auch die soliden
Kreise mit den zweideutigen, sei es an einem noch so dünnen Faden zusam'
men: sie haben eine geheime Freude darüber, daß ihnen ein Blick in diese
abenteuerliche Welt erlaubt ist und manche schöne, aber gelangweilte Seele
mag mit einem stillen Seufzer sich sagen, daß dort die eigentliche Würze des
Lebens sei, denn sie weiß ja nicht, wie hohl und faul es hinter der Lust und
dem Flitter aussieht.

Und das ist ein weiteres Uebel: die Lüge macht sich breit, wird zur Ge¬
wohnheit, man öffnet ihr die Thüre, weil sie ein artig Gesicht macht. Das
ganze Treiben der Cirkel, welche auf die allgemeine Lebensweise einen bestim¬
menden Einfluß üben, ist auf den Schein angelegt; nirgends gilt so unbedingt
der bedenkliche Satz, daß der Mann so viel und so wenig ist, als er scheint.
Nicht nur entbehren Erwerb und Geschäft einer soliden Basis, eines tüchtige"
Inhalts; selbst Genuß und Ausschweifung, die ganze weltmännische Existenz
beruhen ebensosehr auf der Begierde, sich hervorzuthun und sich mit dem
geräuschvollen Apparat des Luxus und einer liebenswürdigen Liederlichkeit zu
umgeben, als auf sinnlicher Leidenschaft. Der Name äsmi-mora" ist ganz
bezeichnend: es ist eine Welt in bodenloser Schwebe, Männer und Frauen
bald oben, bald unten am Rade des Glücks, ohne Geburth- und Heimaths-
schein. ohne Stand und ohne Familie, Lüge durch und durch, denn sie besteht
eigentlich darin, daß sie sich zu dem machen will, was sie nicht ist und selbst
dann nicht wird, wenn sie sich scheinbar dazu gemacht hat. Gelingt es einmal einer


auch jetzt die Furcht überwinden und seine Freuden sich nicht trüben lassen. Der
Vater, in dem stolzen Vorgefühl, selber zu Kampf und Sieg mitgewirkt zu
haben, läßt sich überzeugen: der Tag zur Hochzeit wird angesetzt und es geht
Alles herrlich, wie vorher. Das ,Mbula. docet" könnte doch auch einmal
ein anderes Ergebniß haben, besonders wenn die Sorglosigkeit um die öffent¬
lichen Dinge auch weiterhin gleichen Schritt mit der Genußsucht hält.

Nun zeigt sich auch die nachtheilige Seite der in allen Klassen gleichmä¬
ßigen festen Sitte, der durchgängigen Lebensformen. Man forscht nicht nach
dem innern Werth der Personen und Zustände, man findet es kaum billig, sich
um das zu kümmern, was sie nicht vor der Welt auskramen, und nimmt sie
einfach so wie sie sich geben. Die Allen geläufige Form bildet, wie wir ge¬
sehen, selbst zwischen entgegengesetzten Kreisen die Vermittlung; aber indem
sie für das Gute wie das Schlimme den gleich gefälligen Model angibt, ver¬
wischen sich die Unterschiede. Sie ist dem Franzosen durchaus natürlich, da¬
her lebendig, aber sie ist dennoch eine Maske; denn sie paßt sich den Gestal¬
ten und Situationen nicht an, sie ist immer und überall dieselbe. Dinge und
Verhältnisse, die, offen und rund ausgesprochen, selbst eine bequeme Sittlichkeit
empören würden, werden lächelnd mit zugedrückten Auge hingenommen, weil
sie im Salonkleid gewandt sich bewegen. So hängen denn auch die soliden
Kreise mit den zweideutigen, sei es an einem noch so dünnen Faden zusam'
men: sie haben eine geheime Freude darüber, daß ihnen ein Blick in diese
abenteuerliche Welt erlaubt ist und manche schöne, aber gelangweilte Seele
mag mit einem stillen Seufzer sich sagen, daß dort die eigentliche Würze des
Lebens sei, denn sie weiß ja nicht, wie hohl und faul es hinter der Lust und
dem Flitter aussieht.

Und das ist ein weiteres Uebel: die Lüge macht sich breit, wird zur Ge¬
wohnheit, man öffnet ihr die Thüre, weil sie ein artig Gesicht macht. Das
ganze Treiben der Cirkel, welche auf die allgemeine Lebensweise einen bestim¬
menden Einfluß üben, ist auf den Schein angelegt; nirgends gilt so unbedingt
der bedenkliche Satz, daß der Mann so viel und so wenig ist, als er scheint.
Nicht nur entbehren Erwerb und Geschäft einer soliden Basis, eines tüchtige»
Inhalts; selbst Genuß und Ausschweifung, die ganze weltmännische Existenz
beruhen ebensosehr auf der Begierde, sich hervorzuthun und sich mit dem
geräuschvollen Apparat des Luxus und einer liebenswürdigen Liederlichkeit zu
umgeben, als auf sinnlicher Leidenschaft. Der Name äsmi-mora« ist ganz
bezeichnend: es ist eine Welt in bodenloser Schwebe, Männer und Frauen
bald oben, bald unten am Rade des Glücks, ohne Geburth- und Heimaths-
schein. ohne Stand und ohne Familie, Lüge durch und durch, denn sie besteht
eigentlich darin, daß sie sich zu dem machen will, was sie nicht ist und selbst
dann nicht wird, wenn sie sich scheinbar dazu gemacht hat. Gelingt es einmal einer


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 20, 1861, II. Semester. III. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341793_111969/228>, abgerufen am 23.12.2024.