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Die Grenzboten. Jg. 20, 1861, II. Semester. III. Band.

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schaften, dabei immer der blinde und überraschende Lauf des Glücksrades:
ein Treiben, immer neu, wechselnd, unberechenbar, aber immer in dem schil¬
lernden, lustigen Gewände einer geistreichen Lebekunst.

So steht der gleichförmigen Regel des Sittlichen diese Welt mit dem Zau¬
ber des Ungewöhnlichen in einem fast poetischen Lichte gegenüber. Sie natür¬
lich drängt sich auf den öffentlichen Markt, denn sie wäre nur halb, wenn
sie nicht alle Blicke auf sich zöge, während das stille einfache Glück des mo¬
ralischen Lebens im Verborgenen bleibt. Der Franzose aber, von Natur aus
ebenso eifriger Zuschauer als Schauspieler, weidet sein Auge an dem interes¬
santen, bunten, glitzernden Spiel und kann sich selbst dann, wenn er es inner¬
lich verwirft, der reizenden Erscheinung nicht entziehen. So werden die sitt¬
lichen Begriffe lax, die Anschauungsweise getrübt, die Phantasie überreizt.

Natürlich läßt die Regierung, so viel nur immer möglich, dem Luxus und
der Ausschweifung freie Hand. Es liegt in ihrem Interesse, die Aufmerksam¬
keit von den öffentlichen. Dingen und die unersättliche Begierde nach pikanten
Vorfällen auf ein ihr unschädliches Gebiet abzulenken. Selbst dem Wort und
dem Witz, der sie selber trifft, läßt sie freien Lauf; was man in Deutschland
von dortigem Spionirwesen erzählt, ist reine Fabel. Die Regierung weiß, daß
in Frankreich das gesprochene Wort ungefährlich ist, denn die Freude an der poin-
tirter Wendung nimmt dem Inhalte seine Bedeutung; sie fürchtet nur das
gedruckte Wort, weil es systematisch ist und dauert. Auch die schweren Ver¬
wicklungen nach Außen kümmern den Franzosen wenig, so lange sie nicht in
das tägliche Leben, die ganze Form der Existenz gründlich einschneiden. Ein
kleines Lustspiel, das in der letzten Zeit Glück am Theater Gymnase gemacht
hat, hat diese Stimmung gut getroffen. Es heißt los tremdleurs; schon
der Titel ist bezeichnend. Vor neuen Kriegen fürchtet sich die Nation, weil es
doch endlich mit dem Saus und Braus ein Ende nehmen könnte. So hat
denn auch die Angst vor dem Rheinkrieg in die Familie eines reichen Mannes
eine bedenkliche Mißstimmung gebracht. Frau und Tochter wollen in der ge¬
wohnten Fülle und Behaglichkeit fortleben, der Mann spricht von Einschrän¬
kungen, selbst die Hochzeit soll verschoben werden. Er will sich nur mit Poli¬
tik beschäftigen und läßt ganze Körbe von Broschüren anfahren. Nach ver¬
miedenen Hin- und Gegenzügen entscheidet endlich der Liebhaber durch eine
von ihm selbst verfaßte Broschüre das Spiel, welche die französische Nation
rühmend charakterisirt: der Franzose verstehe es, im Augenblicke der Gesahr
alle seine Privatinteressen aufzugeben und sich mit ganzer aufopfernder Kraft
und Macht entscheidend in den Kampf zu werfen; weshalb daher die unnütze
Sorge vor noch ungewissen Dingen? Er fürchte sich und habe doch das sichere
Bewußtsein, der Gefahr gewachsen zu sein; das gerade zeichne ihn aus,
daß er heiter das Leben genieße bis zum schweren Augenblicke, so soll er denn


Grenzboten III. 1861. 28

schaften, dabei immer der blinde und überraschende Lauf des Glücksrades:
ein Treiben, immer neu, wechselnd, unberechenbar, aber immer in dem schil¬
lernden, lustigen Gewände einer geistreichen Lebekunst.

So steht der gleichförmigen Regel des Sittlichen diese Welt mit dem Zau¬
ber des Ungewöhnlichen in einem fast poetischen Lichte gegenüber. Sie natür¬
lich drängt sich auf den öffentlichen Markt, denn sie wäre nur halb, wenn
sie nicht alle Blicke auf sich zöge, während das stille einfache Glück des mo¬
ralischen Lebens im Verborgenen bleibt. Der Franzose aber, von Natur aus
ebenso eifriger Zuschauer als Schauspieler, weidet sein Auge an dem interes¬
santen, bunten, glitzernden Spiel und kann sich selbst dann, wenn er es inner¬
lich verwirft, der reizenden Erscheinung nicht entziehen. So werden die sitt¬
lichen Begriffe lax, die Anschauungsweise getrübt, die Phantasie überreizt.

Natürlich läßt die Regierung, so viel nur immer möglich, dem Luxus und
der Ausschweifung freie Hand. Es liegt in ihrem Interesse, die Aufmerksam¬
keit von den öffentlichen. Dingen und die unersättliche Begierde nach pikanten
Vorfällen auf ein ihr unschädliches Gebiet abzulenken. Selbst dem Wort und
dem Witz, der sie selber trifft, läßt sie freien Lauf; was man in Deutschland
von dortigem Spionirwesen erzählt, ist reine Fabel. Die Regierung weiß, daß
in Frankreich das gesprochene Wort ungefährlich ist, denn die Freude an der poin-
tirter Wendung nimmt dem Inhalte seine Bedeutung; sie fürchtet nur das
gedruckte Wort, weil es systematisch ist und dauert. Auch die schweren Ver¬
wicklungen nach Außen kümmern den Franzosen wenig, so lange sie nicht in
das tägliche Leben, die ganze Form der Existenz gründlich einschneiden. Ein
kleines Lustspiel, das in der letzten Zeit Glück am Theater Gymnase gemacht
hat, hat diese Stimmung gut getroffen. Es heißt los tremdleurs; schon
der Titel ist bezeichnend. Vor neuen Kriegen fürchtet sich die Nation, weil es
doch endlich mit dem Saus und Braus ein Ende nehmen könnte. So hat
denn auch die Angst vor dem Rheinkrieg in die Familie eines reichen Mannes
eine bedenkliche Mißstimmung gebracht. Frau und Tochter wollen in der ge¬
wohnten Fülle und Behaglichkeit fortleben, der Mann spricht von Einschrän¬
kungen, selbst die Hochzeit soll verschoben werden. Er will sich nur mit Poli¬
tik beschäftigen und läßt ganze Körbe von Broschüren anfahren. Nach ver¬
miedenen Hin- und Gegenzügen entscheidet endlich der Liebhaber durch eine
von ihm selbst verfaßte Broschüre das Spiel, welche die französische Nation
rühmend charakterisirt: der Franzose verstehe es, im Augenblicke der Gesahr
alle seine Privatinteressen aufzugeben und sich mit ganzer aufopfernder Kraft
und Macht entscheidend in den Kampf zu werfen; weshalb daher die unnütze
Sorge vor noch ungewissen Dingen? Er fürchte sich und habe doch das sichere
Bewußtsein, der Gefahr gewachsen zu sein; das gerade zeichne ihn aus,
daß er heiter das Leben genieße bis zum schweren Augenblicke, so soll er denn


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 20, 1861, II. Semester. III. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341793_111969/227>, abgerufen am 23.12.2024.