Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 20, 1861, II. Semester. III. Band.

Bild:
<< vorherige Seite

den Gebieten der Kunst und Sitte ist, befindet sich im Rückschritt. Nur läßt
sich dieses Verhältniß nicht mit der simpeln Behauptung abthun, daß an
allen Uebeln des heutigen Frankreichs lediglich der Imperialismus die Schuld
trage; eine Behauptung, die manche tendenziöse Blätter zum Ueberdruß
wiederkäuen, wie eine Zauberformel, die "den zweiten December" bannen soll,
obwohl sie keinen Hund hinter dem Ofen hervorlocken könnte.*) So einfach
ist das Verhältniß überhaupt nicht, daß es sich in eine kurze Formel bringen
ließe, wie es denn immer mißlich ist, ganze Weltzustände und Beziehungen
formuliren zu wollen. Jenes Verhältniß ist vor Allem, wie schon angedeutet,
ein wechselseitiges: die Abschwächung des Geistes und Charakters, durch die
es der Nation bei aller Fähigkeit der einzelnen Kräfte an einem ernsten und
großen Streben fehlt, machte das neue Kaiserreich möglich und dieses sucht
wieder, sei es nun mit bewußter Absichtlichfeit, sei es durch die den Dingen
einwohnende Konsequenz jede tiefere geistige Regung und jede Anlage von
freier Eigenthümlichkeit niederzuhalten. Daher datirt auch der Verfall der
französischen Kunst nicht vom Beginn der neuen Regierung; er geht in seinem
Anfange weiter zurück. Nur hält er allerdings mit den glänzenden Erfolgen
derselben gleichen Schritt. Jene hat glänzende Erfolge, denn sie hat eine
große individuelle Kraft an ihrer Spitze, oder vielmehr sie ist selbst nichts
als diese Kraft, die, was man auch sonst von ihr halten mag. ebenso fähig
als energisch ist und mit gewandtem Verständniß die Mittel des ganzen Landes
ihren besonderen Zwecken dienstbar macht; dieses, das Land, wird in sich immer
ohnmächtiger. Denn es ist jener Macht gegenüber rein leidend, passives Werk-
Zeug, ohne Selbstthätigkeit, fast ohne eigenthümliches Streben, mit wenigen
Ausnahmen selbst in Kunst und Wissenschaft. Diese Wirkung aus das Ganze
ist immer der Fluch des Despotismus: aber ebenso liegt immer die erste Ur¬
sache dieser Wirkung im Volke selbst.

Und selbst der schädliche Einfluß des öffentlichen Regimentes liegt nicht
so unmittelbar auf der Hand, daß er sich gradezu greifen ließe. Es liegt in
dem Wesen einer klugen Gewaltherrschaft, die Kunst, soweit sie es mit ihren
Mitteln vermag, eher zu begünstigen, als zu unterdrücken. Die Negierung
laßt es an Preisen, officiellen und privaten Aufmunterungen selbst für die ver¬
schiedenen Zweige der Literatur nicht fehlen; in der Architektur und den dit-



") Erst kürzlich erschien wieder in einer bekannten Zeitung bei Gelegenheit der französischen
Ausstellung unter pompöser Ueberschrift ein Artikel, der auf die französische Kunst in ebenso
indischer als niedriger Art schimpfte, um dem Imperialismus mit neuem Anlauf den bekann¬
te" Todesstoß zu versetzen. Die Hauptmasse des hesiigcn. aber durchaus unschädlichen Angriffs
our wieder eine der bekannten systematischen Unwahrheiten: der Mann, der gewiß selber nur
einmal im Salon war, fand, daß er kaum besucht sei. wahrend doch regelmäßig von der
Mittagsstunde an dem ruhigen Beschauer die große Menge lästig fällt. Der Artikel bietet
sonst keinen Anlaß, sich bei ihm aufzuhalten,
14*

den Gebieten der Kunst und Sitte ist, befindet sich im Rückschritt. Nur läßt
sich dieses Verhältniß nicht mit der simpeln Behauptung abthun, daß an
allen Uebeln des heutigen Frankreichs lediglich der Imperialismus die Schuld
trage; eine Behauptung, die manche tendenziöse Blätter zum Ueberdruß
wiederkäuen, wie eine Zauberformel, die „den zweiten December" bannen soll,
obwohl sie keinen Hund hinter dem Ofen hervorlocken könnte.*) So einfach
ist das Verhältniß überhaupt nicht, daß es sich in eine kurze Formel bringen
ließe, wie es denn immer mißlich ist, ganze Weltzustände und Beziehungen
formuliren zu wollen. Jenes Verhältniß ist vor Allem, wie schon angedeutet,
ein wechselseitiges: die Abschwächung des Geistes und Charakters, durch die
es der Nation bei aller Fähigkeit der einzelnen Kräfte an einem ernsten und
großen Streben fehlt, machte das neue Kaiserreich möglich und dieses sucht
wieder, sei es nun mit bewußter Absichtlichfeit, sei es durch die den Dingen
einwohnende Konsequenz jede tiefere geistige Regung und jede Anlage von
freier Eigenthümlichkeit niederzuhalten. Daher datirt auch der Verfall der
französischen Kunst nicht vom Beginn der neuen Regierung; er geht in seinem
Anfange weiter zurück. Nur hält er allerdings mit den glänzenden Erfolgen
derselben gleichen Schritt. Jene hat glänzende Erfolge, denn sie hat eine
große individuelle Kraft an ihrer Spitze, oder vielmehr sie ist selbst nichts
als diese Kraft, die, was man auch sonst von ihr halten mag. ebenso fähig
als energisch ist und mit gewandtem Verständniß die Mittel des ganzen Landes
ihren besonderen Zwecken dienstbar macht; dieses, das Land, wird in sich immer
ohnmächtiger. Denn es ist jener Macht gegenüber rein leidend, passives Werk-
Zeug, ohne Selbstthätigkeit, fast ohne eigenthümliches Streben, mit wenigen
Ausnahmen selbst in Kunst und Wissenschaft. Diese Wirkung aus das Ganze
ist immer der Fluch des Despotismus: aber ebenso liegt immer die erste Ur¬
sache dieser Wirkung im Volke selbst.

Und selbst der schädliche Einfluß des öffentlichen Regimentes liegt nicht
so unmittelbar auf der Hand, daß er sich gradezu greifen ließe. Es liegt in
dem Wesen einer klugen Gewaltherrschaft, die Kunst, soweit sie es mit ihren
Mitteln vermag, eher zu begünstigen, als zu unterdrücken. Die Negierung
laßt es an Preisen, officiellen und privaten Aufmunterungen selbst für die ver¬
schiedenen Zweige der Literatur nicht fehlen; in der Architektur und den dit-



") Erst kürzlich erschien wieder in einer bekannten Zeitung bei Gelegenheit der französischen
Ausstellung unter pompöser Ueberschrift ein Artikel, der auf die französische Kunst in ebenso
indischer als niedriger Art schimpfte, um dem Imperialismus mit neuem Anlauf den bekann¬
te» Todesstoß zu versetzen. Die Hauptmasse des hesiigcn. aber durchaus unschädlichen Angriffs
our wieder eine der bekannten systematischen Unwahrheiten: der Mann, der gewiß selber nur
einmal im Salon war, fand, daß er kaum besucht sei. wahrend doch regelmäßig von der
Mittagsstunde an dem ruhigen Beschauer die große Menge lästig fällt. Der Artikel bietet
sonst keinen Anlaß, sich bei ihm aufzuhalten,
14*
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <div n="2">
            <pb facs="#f0117" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/112087"/>
            <p xml:id="ID_398" prev="#ID_397"> den Gebieten der Kunst und Sitte ist, befindet sich im Rückschritt. Nur läßt<lb/>
sich dieses Verhältniß nicht mit der simpeln Behauptung abthun, daß an<lb/>
allen Uebeln des heutigen Frankreichs lediglich der Imperialismus die Schuld<lb/>
trage; eine Behauptung, die manche tendenziöse Blätter zum Ueberdruß<lb/>
wiederkäuen, wie eine Zauberformel, die &#x201E;den zweiten December" bannen soll,<lb/>
obwohl sie keinen Hund hinter dem Ofen hervorlocken könnte.*) So einfach<lb/>
ist das Verhältniß überhaupt nicht, daß es sich in eine kurze Formel bringen<lb/>
ließe, wie es denn immer mißlich ist, ganze Weltzustände und Beziehungen<lb/>
formuliren zu wollen. Jenes Verhältniß ist vor Allem, wie schon angedeutet,<lb/>
ein wechselseitiges: die Abschwächung des Geistes und Charakters, durch die<lb/>
es der Nation bei aller Fähigkeit der einzelnen Kräfte an einem ernsten und<lb/>
großen Streben fehlt, machte das neue Kaiserreich möglich und dieses sucht<lb/>
wieder, sei es nun mit bewußter Absichtlichfeit, sei es durch die den Dingen<lb/>
einwohnende Konsequenz jede tiefere geistige Regung und jede Anlage von<lb/>
freier Eigenthümlichkeit niederzuhalten. Daher datirt auch der Verfall der<lb/>
französischen Kunst nicht vom Beginn der neuen Regierung; er geht in seinem<lb/>
Anfange weiter zurück. Nur hält er allerdings mit den glänzenden Erfolgen<lb/>
derselben gleichen Schritt. Jene hat glänzende Erfolge, denn sie hat eine<lb/>
große individuelle Kraft an ihrer Spitze, oder vielmehr sie ist selbst nichts<lb/>
als diese Kraft, die, was man auch sonst von ihr halten mag. ebenso fähig<lb/>
als energisch ist und mit gewandtem Verständniß die Mittel des ganzen Landes<lb/>
ihren besonderen Zwecken dienstbar macht; dieses, das Land, wird in sich immer<lb/>
ohnmächtiger. Denn es ist jener Macht gegenüber rein leidend, passives Werk-<lb/>
Zeug, ohne Selbstthätigkeit, fast ohne eigenthümliches Streben, mit wenigen<lb/>
Ausnahmen selbst in Kunst und Wissenschaft. Diese Wirkung aus das Ganze<lb/>
ist immer der Fluch des Despotismus: aber ebenso liegt immer die erste Ur¬<lb/>
sache dieser Wirkung im Volke selbst.</p><lb/>
            <p xml:id="ID_399" next="#ID_400"> Und selbst der schädliche Einfluß des öffentlichen Regimentes liegt nicht<lb/>
so unmittelbar auf der Hand, daß er sich gradezu greifen ließe. Es liegt in<lb/>
dem Wesen einer klugen Gewaltherrschaft, die Kunst, soweit sie es mit ihren<lb/>
Mitteln vermag, eher zu begünstigen, als zu unterdrücken. Die Negierung<lb/>
laßt es an Preisen, officiellen und privaten Aufmunterungen selbst für die ver¬<lb/>
schiedenen Zweige der Literatur nicht fehlen; in der Architektur und den dit-</p><lb/>
            <note xml:id="FID_18" place="foot"> ") Erst kürzlich erschien wieder in einer bekannten Zeitung bei Gelegenheit der französischen<lb/>
Ausstellung unter pompöser Ueberschrift ein Artikel, der auf die französische Kunst in ebenso<lb/>
indischer als niedriger Art schimpfte, um dem Imperialismus mit neuem Anlauf den bekann¬<lb/>
te» Todesstoß zu versetzen. Die Hauptmasse des hesiigcn. aber durchaus unschädlichen Angriffs<lb/>
our wieder eine der bekannten systematischen Unwahrheiten: der Mann, der gewiß selber nur<lb/>
einmal im Salon war, fand, daß er kaum besucht sei. wahrend doch regelmäßig von der<lb/>
Mittagsstunde an dem ruhigen Beschauer die große Menge lästig fällt. Der Artikel bietet<lb/>
sonst keinen Anlaß, sich bei ihm aufzuhalten,</note><lb/>
            <fw type="sig" place="bottom"> 14*</fw><lb/>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0117] den Gebieten der Kunst und Sitte ist, befindet sich im Rückschritt. Nur läßt sich dieses Verhältniß nicht mit der simpeln Behauptung abthun, daß an allen Uebeln des heutigen Frankreichs lediglich der Imperialismus die Schuld trage; eine Behauptung, die manche tendenziöse Blätter zum Ueberdruß wiederkäuen, wie eine Zauberformel, die „den zweiten December" bannen soll, obwohl sie keinen Hund hinter dem Ofen hervorlocken könnte.*) So einfach ist das Verhältniß überhaupt nicht, daß es sich in eine kurze Formel bringen ließe, wie es denn immer mißlich ist, ganze Weltzustände und Beziehungen formuliren zu wollen. Jenes Verhältniß ist vor Allem, wie schon angedeutet, ein wechselseitiges: die Abschwächung des Geistes und Charakters, durch die es der Nation bei aller Fähigkeit der einzelnen Kräfte an einem ernsten und großen Streben fehlt, machte das neue Kaiserreich möglich und dieses sucht wieder, sei es nun mit bewußter Absichtlichfeit, sei es durch die den Dingen einwohnende Konsequenz jede tiefere geistige Regung und jede Anlage von freier Eigenthümlichkeit niederzuhalten. Daher datirt auch der Verfall der französischen Kunst nicht vom Beginn der neuen Regierung; er geht in seinem Anfange weiter zurück. Nur hält er allerdings mit den glänzenden Erfolgen derselben gleichen Schritt. Jene hat glänzende Erfolge, denn sie hat eine große individuelle Kraft an ihrer Spitze, oder vielmehr sie ist selbst nichts als diese Kraft, die, was man auch sonst von ihr halten mag. ebenso fähig als energisch ist und mit gewandtem Verständniß die Mittel des ganzen Landes ihren besonderen Zwecken dienstbar macht; dieses, das Land, wird in sich immer ohnmächtiger. Denn es ist jener Macht gegenüber rein leidend, passives Werk- Zeug, ohne Selbstthätigkeit, fast ohne eigenthümliches Streben, mit wenigen Ausnahmen selbst in Kunst und Wissenschaft. Diese Wirkung aus das Ganze ist immer der Fluch des Despotismus: aber ebenso liegt immer die erste Ur¬ sache dieser Wirkung im Volke selbst. Und selbst der schädliche Einfluß des öffentlichen Regimentes liegt nicht so unmittelbar auf der Hand, daß er sich gradezu greifen ließe. Es liegt in dem Wesen einer klugen Gewaltherrschaft, die Kunst, soweit sie es mit ihren Mitteln vermag, eher zu begünstigen, als zu unterdrücken. Die Negierung laßt es an Preisen, officiellen und privaten Aufmunterungen selbst für die ver¬ schiedenen Zweige der Literatur nicht fehlen; in der Architektur und den dit- ") Erst kürzlich erschien wieder in einer bekannten Zeitung bei Gelegenheit der französischen Ausstellung unter pompöser Ueberschrift ein Artikel, der auf die französische Kunst in ebenso indischer als niedriger Art schimpfte, um dem Imperialismus mit neuem Anlauf den bekann¬ te» Todesstoß zu versetzen. Die Hauptmasse des hesiigcn. aber durchaus unschädlichen Angriffs our wieder eine der bekannten systematischen Unwahrheiten: der Mann, der gewiß selber nur einmal im Salon war, fand, daß er kaum besucht sei. wahrend doch regelmäßig von der Mittagsstunde an dem ruhigen Beschauer die große Menge lästig fällt. Der Artikel bietet sonst keinen Anlaß, sich bei ihm aufzuhalten, 14*

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341793_111969
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341793_111969/117
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 20, 1861, II. Semester. III. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341793_111969/117>, abgerufen am 03.07.2024.