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Die Grenzboten. Jg. 20, 1861, II. Semester. III. Band.

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freilassen, wenn die Leitung des Staates dieselbe weder einengt, noch verkehrt,
noch verdirbt: mit einem Worte, der Gang des Staates darf dem Lauf der
Cultur wenigstens nicht entgegen sein. Und umgekehrt kann die glänzendste
politische Existenz dem wahren Wesen der Kunst nur schaden, wenn sie auf
den geistigen und sittlichen Charakter des Volkes, statt ihn sich selbst zu über¬
lassen, in üblem Sinne einwirkt. Es ist möglich, daß in einem solchen Falle
die Mache eine gewisse Vollkommenheit erreicht oder noch sich bewahrt, daß
die technische Darstellung eine Fertigkeit und Routine erlangt, welche die An¬
schauung bestechen und die Kunst dem gewöhnlichen Blick ebenso wahr als
täuschend erscheinen lassen; es ist ebenso möglich, daß man im sichern Bestie
dieser Geschicklichkeit allerlei neue und seltsame Wirkungen sucht und hervor¬
bringt. Aber was in der Kunst das wirklich Künstlerische ist, das nämlich das
Wesen des Menschen ebenso sehr erhebt und befriedigt, als es dasselbe inner¬
halb einer bestimmten Lebenssphäre formvoll ausprägt, das wird selbst den
besten Leistungen einer solchen Zeit so gut wie ganz fehlen.

Nur meine man nicht, daß lediglich die Regierung -- die sich in solchen
Fällen immer in den Händen Einzelner befindet -- die Schuld dieses Übeln
Einflusses trage. Aus welchem Wege sie immer zu der Macht gekommen sein
mag, die sie auf Kosten der innern Entwicklung des Volkes, wenn auch zu
Gunsten seiner äußern Stellung behauptet, wie fleißig sie auch alle Mittel
einer verfeinerten und ausschweifenden Lebensweise benutzen mag, um die Nation
von einem selbstthätigen Aufschwünge oder ernsten Streben abzuhalten, da¬
mit nicht die zunehmende Kraft ihr gefährlich werde: daß sich das Volk matt
und willenlos leiten, sich so leiten und beherrschen läßt, ist die Schuld der
Regierung nicht. Die Schwäche, die Neigungen und Bedürfnisse, welche diese
ausbeutet, sind nicht ihr Werk, sondern jenem, dem Volke eigenthümlich. Die
sittliche Verwilderung, die Erschlaffung des Charakters, die geistige Abspannung
oder Ueberreizung. die Unreinheit der Zwecke, die Absicht des Scheins: das
Alles sind Eigenschaften, die aus dem Wesen einer Nation im Laufe der Ge¬
schichte erwachsen, und sich durch keine Macht der Erde von außen in sie hin¬
einbringen lassen. Ja, eine Gewalt, welche durch eine geschickte Verwendung
dieser Eigenschaften das Volk sich unterwirft, um ihm durch den äußern Glanz
die Besinnung auf sich selbst unmöglich zu machen, eine solche Gewalt ist
nicht durch irgend welche Umstünde über dasselbe gekommen, sondern dieses hat sie
aus eigenem Willen über sich gesetzt, da sich ihm im geeigneten Augenblick
eine gewandte dazu taugliche Kraft in die Hände spielte.

Das Verhältniß, auf welches diese Bemerkungen anspielen, liegt übri¬
gens dem aufmerksamen Beobachter offen zu Tage. Das staatliche Am
sehen Frankreichs mag gegenwärtig auf seiner höchsten Spitze stehen; die
Cultur, sofern sie die ernste und tüchtige Entwicklung des geistigen Lebens aus


freilassen, wenn die Leitung des Staates dieselbe weder einengt, noch verkehrt,
noch verdirbt: mit einem Worte, der Gang des Staates darf dem Lauf der
Cultur wenigstens nicht entgegen sein. Und umgekehrt kann die glänzendste
politische Existenz dem wahren Wesen der Kunst nur schaden, wenn sie auf
den geistigen und sittlichen Charakter des Volkes, statt ihn sich selbst zu über¬
lassen, in üblem Sinne einwirkt. Es ist möglich, daß in einem solchen Falle
die Mache eine gewisse Vollkommenheit erreicht oder noch sich bewahrt, daß
die technische Darstellung eine Fertigkeit und Routine erlangt, welche die An¬
schauung bestechen und die Kunst dem gewöhnlichen Blick ebenso wahr als
täuschend erscheinen lassen; es ist ebenso möglich, daß man im sichern Bestie
dieser Geschicklichkeit allerlei neue und seltsame Wirkungen sucht und hervor¬
bringt. Aber was in der Kunst das wirklich Künstlerische ist, das nämlich das
Wesen des Menschen ebenso sehr erhebt und befriedigt, als es dasselbe inner¬
halb einer bestimmten Lebenssphäre formvoll ausprägt, das wird selbst den
besten Leistungen einer solchen Zeit so gut wie ganz fehlen.

Nur meine man nicht, daß lediglich die Regierung — die sich in solchen
Fällen immer in den Händen Einzelner befindet — die Schuld dieses Übeln
Einflusses trage. Aus welchem Wege sie immer zu der Macht gekommen sein
mag, die sie auf Kosten der innern Entwicklung des Volkes, wenn auch zu
Gunsten seiner äußern Stellung behauptet, wie fleißig sie auch alle Mittel
einer verfeinerten und ausschweifenden Lebensweise benutzen mag, um die Nation
von einem selbstthätigen Aufschwünge oder ernsten Streben abzuhalten, da¬
mit nicht die zunehmende Kraft ihr gefährlich werde: daß sich das Volk matt
und willenlos leiten, sich so leiten und beherrschen läßt, ist die Schuld der
Regierung nicht. Die Schwäche, die Neigungen und Bedürfnisse, welche diese
ausbeutet, sind nicht ihr Werk, sondern jenem, dem Volke eigenthümlich. Die
sittliche Verwilderung, die Erschlaffung des Charakters, die geistige Abspannung
oder Ueberreizung. die Unreinheit der Zwecke, die Absicht des Scheins: das
Alles sind Eigenschaften, die aus dem Wesen einer Nation im Laufe der Ge¬
schichte erwachsen, und sich durch keine Macht der Erde von außen in sie hin¬
einbringen lassen. Ja, eine Gewalt, welche durch eine geschickte Verwendung
dieser Eigenschaften das Volk sich unterwirft, um ihm durch den äußern Glanz
die Besinnung auf sich selbst unmöglich zu machen, eine solche Gewalt ist
nicht durch irgend welche Umstünde über dasselbe gekommen, sondern dieses hat sie
aus eigenem Willen über sich gesetzt, da sich ihm im geeigneten Augenblick
eine gewandte dazu taugliche Kraft in die Hände spielte.

Das Verhältniß, auf welches diese Bemerkungen anspielen, liegt übri¬
gens dem aufmerksamen Beobachter offen zu Tage. Das staatliche Am
sehen Frankreichs mag gegenwärtig auf seiner höchsten Spitze stehen; die
Cultur, sofern sie die ernste und tüchtige Entwicklung des geistigen Lebens aus


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 20, 1861, II. Semester. III. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341793_111969/116>, abgerufen am 01.07.2024.